Foto: Magda Hueckel

Jens Pepper: Ab und zu hatte ich schon einige deiner Arbeiten gesehen, zumeist in Büchern, in Katalogen und im Internet, intensiv konfrontiert wurde ich mit ihnen jedoch erstmals in deiner kleinen Ausstellung in der Henryk Galerie in Krakau während des diesjährigen Fotomonats. Du hast dort eine Auswahl deiner Theaterfotografien als Projektion in einem abgedunkelten Raum der Privatwohnung gezeigt, in der auch die Galerie betrieben wird. Das war ein intensives und eindrucksvolles Erlebnis. In den Bildern ging es mehr um Chaos als um Schönheit und der Raum, sowie die leicht welligen Projektionsflächen, haben diesen Eindruck noch verstärkt. Was hat dich zu dieser Fotoauswahl und zu der Art sie zu zeigen bewogen?

Magda Hueckel: Da gibt es mehrere Gründe. Ich fotografiere seit über zehn Jahren in Theatern und dokumentiere dabei die interessantesten Phänomene, die besten Aufführungen und die Arbeit der wichtigsten Regisseure Polens. Ich habe tausende Bilder gemacht und dabei festgestellt, dass sie nur im Theaterkontext existieren, nur in strenger Verbindung mit den Aufführungen, nie aber im Kontext mit der Fotografie oder den Bildenden Künsten. Also habe ich begonnen, mir Gedanken über das Genre der Theaterfotografie zu machen. Besitzen die Aufnahmen das Recht auf ein Eigenleben? Ich entschloss mich, hierüber zu arbeiten. Mein erster Schritt war ein Fotobuch, das Ende 2015 vom Theater Institut in Warschau veröffentlicht wurde. Dafür habe ich Fotografien aus ihrem ursprünglichen Kontext gelöst und mit ihnen meine eigene Geschichte konstruiert, eine Art Collage mit einer neuen Bedeutung. Die Ausstellung bezog sich auf dieses Buch, aber ich hatte dafür einige Dinge zu ändern, denn Buch und Ausstellung sind zwei völlig verschieden Medien. Dinge, die in einem Buch funktionieren, sehen nicht unbedingt gut in einer Ausstellung aus. Hinzu kam, dass sich vieles in meinem Leben verändert hatte, genauso wie die uns umgebenden Realität. Ich musste also die Ausstellung aktualisieren.

Theater ist ein Medium, das unmittelbar auf Realität reagiert. Ich dachte mir also, dass es gut wäre, wenn die Ausstellung sich selbst permanent verändert und jedes Mal, also an jedem neuen Ausstellungsort, aus anderen Fotos besteht. Ich wollte, dass sie ebenso flüchtig ist wie es das Theater selbst.

Thema der Ausstellung war der Körper. Der Körper als Subjekt eines radikalen Erlebnisses, versunken in Schmerz, an seine Grenzen gebracht, in Stücke zerschlagen, gelähmt, erfroren, seiner Identität beraubt. Ein Körper nach Erreichen eines Höhepunkts, sofort in sich zusammengesunken. Die Bilder lösen eine gefühlbezogene Wahrnehmung aus, sie zeigen uns die Seite des Schmerzes und den Kollaps von Identität. Der Inhalt korrespondiert mit dem Gefühl von Gefahr und Spannung, die unser gegenwärtiges Leben bestimmen.

Das Thema ist schmerzlich, deshalb war mir klar, dss ich die Präsentation nicht als klassische Austellung gestalten konnte. Sie musste aggressiv sein und alle Sinne ansprechen. Deshalb habe ich diese Art von Installation gemacht. Alle Besucher mussten durch einen unangenehmen Plastikvorhang gehen. Auf der anderen Seite wurden sie von einer flackernden und intensiven Projektion geblendet, die direkt in ihre Richtung ging. Die zweite Projektion war groß, überwältigend und so entwickelt, dass sie zum Rhythmus psychedelischer Musik funktionierte. Ich wollte ein Gefühl des Verlorenseins, des Chaos und der Gefahr verursachen.

Jens Pepper: Du hast in Danzig Fotografie und Bühnenbild an der Kunstakademie studiert. In deiner Ausstellung in Krakau hast du deine aktuelle fotografische Arbeit mit dem was du damals auch studiert hast verknüpft. Hattest du jemals den Wunsch Bühnenbildnerin für Theater oder Film anstatt Fotografin zu werden?

Magda Hueckel: Ich habe zwei Fächer an der Fakultät für Malerei und Grafik studiert, Fotografie und Bühnenbild, genau. Ich wusste immer, dass das meine Bereiche sind, auch wenn sie in gewissem Sinne gegensätzlich sind. Im Theater ist alles vergänglich und einzigartig, während Fotografie einen Moment der Zeit einzufangen und zu bewahren versucht, von dem du dann auch noch leicht Kopien anfertigen kannst. Ich dachte aber nie daran, dass sich diese beiden Interessensfelder verbinden lassen würden. Als ich zum Theater ging, war das mit der Absicht, Bühnenbildnerin zu werden. Und tatsächlich habe ich einige Bühnenbilder entworfen, mache es sogar immer noch, gegenwärtig zum Beispiel versuche ich mich am Bühnenbild für einen Film. Viele Jahre habe ich auch mit Małgorzata Szczęśniak [polnische Kostüm- und Bühnenbild-Designerin] für Stücke von Krzysztof Warlikowski zusammengearbeitet. Die vielen Monate bei den Proben haben es dann mit sich gebracht, dass ich ganz natürlich damit begann, die Dinge, die um mich herum geschahen, zu dokumentieren. So fing das alles an. Ich denke, dass ich davon profitiere, zunächst die schöpferische Seite des Theaters kennengelernt zu haben. Aus diesem Grund ist meine Anwesenheit dort vollkommen organisch, ich bin dort kein Fremdkörper. Ich verstehe die Sprache des Theaters, ich fühle bestimmte Mechanismen und natürlich kenne ich die Leute, mit denen ich zusammenarbeite. Und wie du bemerkt hast, benutze ich die Bühnenbild-Erfahrung wenn ich meine Ausstellungen arrangiere. Dennoch denke ich, dass Fotografie für mich immer am wichtigsten war.

Jens Pepper: Du hast also die Szene vor etwas über zehn Jahren als Theater-Fotografin betreten, wie du gerade gesagt hast. Kanntest du Bilder, die damals in Polen von Stücken und Bühnenbildern gemacht wurden? Hattest du schon eine Idee, wie du deine eigene Fotografie in diesem Bereich entwickeln wolltest? Und hattest du eigentlich nach einem neuen Blick auf Theater gesucht?

Magda Hueckel: Ehrlich gesagt wusste ich zu der Zeit noch nicht, was Theaterfotografie ist. Ich kannte ein paar Fotos von Stefan Okołowicz, Edward Hartwig und ein paar anderen Fotografen aber von Anfang an wusste ich, dass ich meinen eingen Weg finden musste. Ich habe niemals in der Theaterfotografie nach Inspiration gesucht. Allerdings versuchte ich sehr tief in die Materie einzudringen und suchte ganz allgemein Inspiration in der Kunstgeschichte – Malerei, Bildhauerei, Dokumentarfotografie, Filme etc. Wir leben in einer visuellen Kultur und wir verstehen visuelle Codes, häufig völlig unterbewusst. Daher war der Bezug zu diesen visuellen Codes essentiell für mich. Ich beschäftige mich mit Darstellungsgepflogenheiten, die starke kulturelle Bedeutungen haben und die mit speziellen Situationen und Emotionszuständen identifiziert werden. Folglich versuche ich für jede Aufführung eine extra Bildsprache zu finden, die dann aber nicht in Opposition zum Inhalt des Stückes steht. Ich folge der Vision des Künstlers und möchte diese in eine fotografische Sprache übersetzen.

Jens Pepper: Lehnst du Jobs ab, wenn dir Stücke oder Bühnenbilder nicht gefallen? Oder wenn du das Gefühl hast, keine passende Bildsprache für ein Stück finden zu können?

Magda Hueckel: Ich verfolge zwei verschiedene Strategien: Ich arbeite mit Theatern und ausgewählten Regisseuren zusammen, die mir gefallen. Die Theater, mit denen ich arbeite, sind eher experimentell, sie suchen nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten, benutzen unterschiedliche Medien, bewegen sich also an der Grenze vom Theater zum Film und zur Performance. Jede einzelne Inszenierung ist für mich ein Abenteuer, eine Art Herausforderung. Wenn ich also einmal zusage mit einer Institution zu arbeiten, dann bedeutet das auch, das ich mich für ihre Vision interessiere und ihren Stil mehr oder weniger mag. Im Resultat akzeptiere ich auch ihre Vorschläge, wie das Stück dokumentiert werden sollte.

Es kommt selten vor, dass ich von eher konventionellen Theatern Angebote erhalte – also von ca. 90% der polnischen Theatern (lacht). Wenn ich ein solches Angebot erhalte, dann kommt es darauf an ….. manchmal, wenn das Schauspiel gut ist, selbst wenn es nicht meinem Geschmack entspricht, dann behandele ich es für mich wie ein Experiment. Wenn es aber überhaupt nicht zu mir passt, es mich auch nicht interessiert, dann lehne ich ein solches Angebot ab, aus Sorge, dass ich vor Langeweile umkommen könnte. Ich versuche Theaterfotografie als eine Form von Kunst zu behandeln und nicht nur als ein Handwerk, das mir Geld einbringt.

Jens Pepper: Was waren für dich in letzter Zeit die interessantesten Theater-Shootings?

Magda Hueckel: Das war ‚Klątwa‘, der Fluch, auf jeden Fall. Das Stück [aus dem Jahr 1899 von Stanisław Wyspiański] in der Regie von des kroatischen Regisseurs Oliver Frlijc im Powszechny Theater in Warschau. Ab der zweiten Szene der Aufführung wusste ich, dass ich an etwas sehr Wichtigem teilhabe, an einem Ereignis, das das polnische Theater verändern wird. Und ich hatte Recht. ‚Klątwa‘ hat die Leute gespalten, zeigte wie unreif unser Publikum ist. Die Inszenierung wurde ein Thema in der Öffentlichkeit, sie war in den Medien, auf der Straße, in den Köpfen der Leute. Sie wurde als Instrument politischer Manipulation missbraucht. Noch Wochen nach seiner Premiere sprachen wir immer noch vor allem über die Folgen der Aufführung.

Ich liebe es auch, Fotos von Krzysztof Garbaczewskis Stücken zu machen. Sie sind sehr visuell, an der Schwelle zu Performance, Installation und Video-Kunst. Die Schauspieler sind beispielsweise nicht auf der Bühnen, sondern im Keller, so dass das Publikum sie nur in Live-Aufnahmen als Projektion sieht. Dort war ich dann mit den Schauspielern. Einmal war ich sogar während einer Aufführung mit ihnen auf der Bühne! Der Zuschauerraum war voll und die Schauspieler haben mich geführt, haben mir gezeigt, wo und wie ich auf der Bühne sein konnte, ohne den Fortgang des Stückes zu stören. Diese Atmosphäre zu erleben war großartig.

Jens Pepper: Das hat jetzt nichts mit deiner Fotografie zu tun, aber vielleicht kannst du mir erzählen, wovon das Stück ‚Klątwa‘ handelt und warum Menschen so reagieren, wie du es erlebt hast. Das klingt alles sehr intensiv.

Magda Hueckel: ‚Klątwa‘ , also der Fluch, in der Regie von Olivier Frilic war eine der politischsten Aufführungen der vergangenen Jahre in Polen. Das Stück war exakt komponiert, perfekt aufgeführt, intelligent, lustig und provokativ. Eines seiner Hauptthemen ist die Pädophilie in der katholischen Kirche, die viele Jahre lang von der Kirchenführung verschwiegen wurde. In der dritten Szene wird einer Gipsstatue, die Johannes Paul II symbolisieren soll, ein Schild mit der Inschrift „Ein Verteidiger der Padophilie“ umgehängt. Vorher, in derselben Szene, vollzieht eine der Schauspielerinnen Fellatio an der Statue. Diese beiden Gesten waren genug, um einen Sturm zu verursachen. In Polen ist Johannes Paul II ein Nationalheld, eine große Autorität, allgemein beliebt und vollkommen unberührbar. Man darf nichts Schlechtes über ihn sagen. Frilic zeigte bewusst auf ihn und die rechten Medien sind sofort und von Herzen auf diese Provokation angesprungen und haben einen Krieg gegen die Schauspieler, das Theater, den Regisseur, das Publikum und ganz allgemein gegen linksgerichtetes Theater begonnen. Die Szene mit dem Oralsex wurde heimlich gefilmt und illegalerweise in der Hauptausgabe der täglichen Nachrichten im öffentlich-rechtlichen Fernsehen um 19:30 Uhr gezeigt, also dann, wenn alle Kinder beim Abendessen zuschauen. Das eigentliche Thema und die Bedeutung von ‚Klątwa‘ wurde völlig ausgelassen, zahlreiche Fakten wurden verdreht, etliche Lügen verbreitet. Die öffentliche Meinung wurde von einer Welle des Hasses aufgewiegelt. Es gab viele Demonstrationen vor dem Theater und während einer Vorstellung drangen ein paar Leute ins Gebäude und haben Säure auf dem Boden verschüttet, wodurch ein Mitarbeiter leicht verletzt wurde. Ein halbes Jahr lang haben die Menschen, die im Theater arbeiten, regelmäßig Emails mit Drohunge erhalten. Sogar mich als Fotografin hat man bedroht.

Jens Pepper: Es scheint sich ein Klima der Intoleranz in Polen zu entwickeln. Machst du mit deiner Arbeit wie gewohnt weiter? Oder veränderst du Dinge, entweder, weil du vorsichtiger sein möchtest, damit deine Familie nicht in den Fokus derjenigen gerät, die dich bedrohen oder weil du dich entschlossen hast, deine Fotografie als Waffe gegen die Intoleranz einzusetzen, beispielsweise indem du aggressiver in deiner fotografischen Arbeit wirst?

Magda Hueckel: Ich fürchte, dass Polen nicht das einzige Land ist, das mit den Problemen einer wachsenden Intoleranz konfrontiert wird. Das ist ein globaler Prozess, der da im Gange ist. Viele Politiker füttern die Menschen mit Ängsten, was im Grunde genommen einer der Hauptgründe für diese Radikalisierung ist. In dieser Aufgabe ist es an den Künstlern, die Menschen mit dieser Thematik zu konfrontieren und sie zu belehren, bevor es zu spät ist. Ich fühle mich übrigens nicht bedroht. Eines meiner nächsten Projekte wird sehr politisch sein. Es wird ein Film sein: ‚Chaos-Studien‘. Ich werde den Film mit meinem Mann Tomasz Śliwiński machen und er handelt von Krzysztof Niemczyk, einem in Vergessenheit geratenen polnischen Künstler. Der Zweck des Films ist es nicht nur, an seine Biografie zu erinnern, sondern vor allem das Bild eines genialen Unangepassten zu zeigen, einer Ikone der Unabhängigkeit, einen radikalen Künstler, der mit seiner Haltung die Gesellschaft herausgefordert hat. Wir wurden wirklich inspiriert von Krzysztof und nun möchten wir unsere Generation inspirieren. Wir sind überzeugt davon, dass wir heute Menschen wie Krzysztof bräuchten … tapfer, kritisch und unabhängig. Das scheint so wichtig zu sein im heutigen Europa, in dem wir eine wachsende Radikalisierung und eine Rückkehr von Nationalismen erleben.

Jens Pepper: Kannst du mir ein bisschen mehr über diesen Mann erzählen? Warum hat er die Gesellschaft herausgefordert? Wie sah seine Kunst aus? Ich habe nie von ihm gehört oder zumindest kann ich mich nicht daran erinnern.

Magda Hueckel: Wahrscheinlich hast du nicht von ihm gehört. Ende der 1960er Jahre war er in Polen ziemlich bekannt, jetzt ist er allerdings vollkommen vergessen. Er war ein Schriftsteller, Maler und Performer, der einzige Situationist in Polen und der einzige polnische Queer-Künstler im 20. Jahrhundert. Sein ganzes Leben war eine Art von Kunstwerk. Er entblößte die ganze Heuchelei der gesellschaftlichen Konventionen und des politischen Systems. Es hatte sich nicht gefürchtet, das Unterdrückungssystem des kommunistischen Regimes, in dem er lebte, herauszufordern. Hier zeigte er Mut, Erfindergeist und intellektuelle Präzision. 1968 schrieb er den Roman ‚Die Kurtisane und die Hühner‘, den aber niemand in Polen drucken wollte. Erst 30 Jahre später wurde er dann in Frankreich veröffentlicht. Dort wurde er dann auch als eines der größten Bücher der polnischen Literatur aus der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts bezeichnet. In Polen ist er noch immer fast vollkommen unbekannt. Wir wollen mit unserem Film das Thema Nonkonformismus erforschen, den Mut, ein Leben zu leben, das du wirklich leben willst, inklusive aller Konsequenzen.

Jens Pepper: Wie wichtig ist Nonkonformismus in deiner eigenen Arbeit als Künstlerin und in deinem eigenen Leben?

Magda Hueckel: Ich glaube, dass ich keine Konformistin bin. Natürlich kann ich mich nicht mit Niemczyk vergleichen. Ich bin nicht so radikal und ich arbeite in vollkommen anderen Kunstbereichen, dennoch ist auch für mich Authenzität ein wesentlicher Wert. Die wohl schwierigste Prüfung, die ich je hatte, die Kunst und das Leben betreffend, war die Geburt meines ältesten Sohnes Leo. Leo erhielt sofort nach der Geburt die Diagnose die ultraseltene Generkrankung CCHS zu haben, das Ondine-Syndrom oder auch Ondines Fluch. CCHS-Patienten hören auf zu atmen, wenn sie schlafen und müssen daher lebenslang Beatmungssysteme benutzen. Diese Diagnose kam vollkommen unerwartet und die Prognose war grausam: Leo würde nicht fähig sein zu atmen, zu essen, zu verdauen, zu laufen, zu sprechen … Zu dieser Zeit arbeitete ich an meiner Selbstportraitserie, in der ich meine Ängste, Emotionen, Obsessionen etc. analysierte. Als dann mein Mann die Idee hatte, uns während dieser dunklen Zeit zu filmen, da wusste ich, dass wenn ich mich nicht dazu entschließen würde mitzumachen, dass all meine bisherige Arbeit in meinen Augen ihre Authenzität verlieren und ich mich Feigling betrachten würde. Wir haben also diesen Film gemacht, ‚Our Curse / Unser Fluch‘. Er hat viel verändert. Der zweite schwierige Moment für mich war, als bei mir Brustkrebs diagnostiziert wurde. Auch dieses habe ich in Kunst übersetzt, in eine weitere Reihe von Selbstportraits. Und auch wenn es schwierig war, so habe ich eine Art von Coming Out mit meiner Krankheit gehabt. Ich versteckte meinen Glatze nicht und zeigte so meine Krankheit. Ich wollte zeigen, dass es da nichts gibt, wofür man sich schämen müsste, dass das alles zum Leben dazu gehört.

Jens Pepper: Diesen Film zu sehen und auch deine Selbstportaits, das alles wirkt in der Tat sehr authentisch. Man sieht, dass das nicht einfach L’Art pour L’Art ist sondern sehr existentiell, sehr ehrlich. Es hat dir geholfen bei der Bewältigung all dieser Herausforderungen in deinem Leben. Wie haben die Menschen auf deinen Film reagiert, wie haben sie auf dein Coming Out mit deiner Krankheit reagiert?

Magda Hueckel: Es hat mir viel geholfen. Am Anfang hatten wir ein wenig Angst vor den Reaktionen der Leute. Unser Image im Film entspricht nicht gerade dem Stereotyp, es ist sogar ziemlich unkorrekt. Normalerweise werden Eltern von behinderten Kindern als Opfer oder Helden gezeigt. Wir passen zu keinem dieser Bilder. Wir sind wir selbst. Wir haben Zusammenbrüche, erleben Momente des Glücks, Ängste und Wut. Und obendrein trinken wir auch Alkohol, wir rauchen, wir fluchen. Und es ist ja bekannt, dass Eltern all dieses nicht tun sollen. Wir waren uns darüber bewusst, dass wir womöglich heftig kritisiert werden würden, aber Ehrlichkeit war uns das Wichtigste. Wir wollten unser Portrait nicht aufpolieren. Zu unserer Überraschung wurde dieser Film enthusiastisch aufgenommen. Es zeigte sich, dass er ausreichend ehrlich war und universell genug, dass er überall in der Welt verstanden werden konnte. Am meisten hatte ich Angst davor, ihn in den USA zu zeigen, während einer CCHS-Konferenz. Der Film würde dort von Eltern mit CCHS-Kindern angesehen werden, die dasselbe durchmachten wie wir. Ich wusste, dass unter den Zuschauern Menschen mit sehr konservativen Ansichten waren und mit sehr puritanischen Lebensweisen. Doch trotz allem, ich hörte nur Worte der Dankbarkeit und Kommentare die besagten, dass der Film einer über unsere Gemeinschaft sei, dass er endlich die Wahrheit zeige über diese Behinderung und das sie alle mit uns auf unserer Couch sitzen würden. (Der rote Faden im Film sind Gespräche, die Tomasz und ich auf der Couch führen.) Das Wichtigste von allem war allerdings, dass unser Film die Gründung einer Stiftung beeinflusste, die sich der Erforschung von CCHS widmet [www.zdejmijklatwe.org/en/]. Wir sammeln derzeit Gelder, um Wissenschaftler zu unterstützen, die an Heilmitteln für diese Krankheit arbeiten!

Diese ganze Geschichte hat mir gezeigt, wie gewaltig Kunst sich eben doch auf die Realität auswirken kann. Natürlich ist mir bewusst, dass der Film standhafte Gegner hat. Ablehnende anonyme Kommentare erscheinen gelegentlich im Internet. Glücklicherweise kümmert uns das nicht. Wir beide, Tomek und ich, wissen was wir tun, wir wissen, dass wir alles in unserer Macht stehende für unseren Leo tun und wir sind der festen Überzeugung, dass wir mit uns selbst ehrlich umgehen müssen. Deshalb kümmern uns die Meinungen Fremder nicht so sehr.

Und was mein Coming Out betrifft, ich habe ihn vor allem auf meinem Blog www.leoblog.pl/en gemacht, den ich seit der Geburt meines Sohnes schreibe. Auch das hat mir ausschließlich Hilfe und Unterstützung gebracht. Er hat mich von der Geheimnistuerei befreit, mit der kranke Menschen oft leben. Für mich ist es einfacher, wenn alles klar ist; es gibt kein Geflüster, keine Gerüchte oder unangenehme Situationen. Krankheit gehört zum Leben.

Jens Pepper: Du hast 2016 damit aufgehört, die Texte auf leoblog ins Englische zu übersetzen. Zu viel Arbeit? Du hast jetzt zwei Kinder, um die du dich kümmern musst, dann die Fotografie und das Filmemachen, die Stiftungsarbeit, deine eigene Krankheit, einen Ehemann … das ist ein Programm für drei Personen.

Magda Hueckel: Ja, der Hauptgrund ist Zeitmangel. Ich denke auch darüber nach, die polnische Version zu beenden. Der Blog hat uns ziemlich geholfen – und ich glaube, nicht nur uns – aber Leo wird größer und die gegenwärtige Formel passt nicht mehr. Bisher konnte ich alles gut unter einen Hut bringen: den Blog ernsthaft gestalten und auch unsere Privatsphäre schützen. Aber über ein Kleinkind zu schreiben oder über einen heranwachsenden Jungen, das sind zwei verschiedene Dinge. Ich fürchte, dass der Blog eine Last für Leo werden könnte. Wie dem auch sei, ich denke darüber nach, das alles als Buch zu veröffentlichen.

Jens Pepper: ‚Unser Fluch“ wurde 2015 für einen Academy Award nominiert. Was dachtest du, als dich diese Nachricht erreichte?

Magda Hueckel: Ich gebe zu, dass diese ganze Sache wahnsinn war, eine echte Cinderella-Geschichte. Als wir den Film drehten, waren wir uns nicht einmal sicher, ob wir ihn jemals jemandem zeigen würden. Dann hatten wir uns dazu entschlossen, in die Vollen zu gehen und Tomek hatte begonnen, den Film bei verschiedenen Festivals einzureichen. Er hat dann mehr und mehr Preise gewonnen bis er schließlich einen im Rahmen der Oscar-Nominierungen gewann. Wir dachten, dass das lustig sei. Wir füllten also einen Antrag aus, in dem wir uns um eine Nominierung bewarben, brannten 50 Cds und schickten alles nach Los Angeles, in der Überzeugung, dass unser Oscar-Abenteuer damit beendet sei. Anschließend hatten wir überhaupt nicht mehr daran gedacht. Und dann kam, völlig unerwartet, die Mail, in der uns mitgeteilt wurde: „Hallo, wir freuen uns euch mitteilen zu können, dass ‚Der Fluch‘ auf der Oscar-Shortlist ist‘. Wir mussten dann noch ein paar Cds brennen und verschicken. Diesmal haben wir die Sache natürlich nicht vergessen und warteten auf die Ernennung der Nominierten. An dem Tag trafen wir eine ganze Reihe Filmemacher vom PISF [Polnisches Film-Institut] und jemand hielt uns via Telefon auf dem Laufenden. Als wir dann hörten, dass wir nominiert waren, dachte ich zuerst, dass das nicht wahr sein könne. Sie mussten es mir eingige Male wiederholen bevor ich schließlich wahnsinnig glücklich wurde. Es war ein verrückter und unwahrer Moment. Wir waren wie betäubt. Nach all der Verzweiflung landeten wir auf dem roten Teppich.

Jens Pepper: Vor ein paar Jahren hast du ein Text- und Fotobuch über deine Afrikareisen gemacht. Was bedeutet dir Afrika?

Magda Hueckel: Afrika ist meine große Liebe. Es hatte mich schon in meiner Kindheit fasziniert, lange bevor wir dorthin reisten. Ich bin viele Male zurückgekehrt, aber es hat lange gedauert, bevor ich meine Gefühle ausdrücken konnte, die Gründe benennen, warum ich so fasziniert bin, bevor ich eine visuelle Sprache gefunden hatte. Heute denke ich, dass das, was mich angezogen hat, das Atavistische ist, die Erinnerung an die Ahnen, die in Afrika noch sehr präsent ist. Das ist etwas, das mir nahe ist, aber auch vergessen, verloren, fremd. Mich fasziniert die afrikanische Spititualität, die Verbundenheit der Menschen mit der Welt, die Freundlichkeit, dieses tiefe Vertrauen in die nichtmaterielle Welt, die Rituale und die Authenzität. Afrika hat einen völlig andeen Blick auf die Welt, auf die Zeit, es hat andere Werte als die, die in unserer Welt vorherrschen. Solch eine Perspektive gibt dir einen Menge zum Nachdenken.

Jens Pepper: Was hat das alles mit deinem eigenen Leben gemacht? Hatten diese Erlebnisse Einfluss auf deine Arbeit? Ich kann es mir vorstellen. Auch das Theater ist etwas, das oft merkwürdig erscheint und fremd in bekannter Umgebung wirkt, das dem Publikum Fenster in eine andere Welt eröffnet, zu vergessenen oder verschütteten Ritualen, zu fremdartigen Gedanken etc. Ich kann mir vorstellen, dass du dich in der Theaterwelt so wohl fühlst, weil du dort ähnliche Gefühle erleben kannst, wie du sie in bestimmten Regionen Afrikas und bei bestimmten Erlebnissen dort hast. Wie ich es verstanden habe, bist du schon nach Afrika gereist bevor du damit begonnen hast, als Theaterfotografin zu arbeiten, oder? Oder war es genau anders herum, dass deine Verbindung zur merkwürdigen Welt des Theaters – noch zu Studentenzeiten – dich geöffnet hat für afrikanische Rituale, Lebensweisen und Geschichten?

Magda Huekel: Reisen – nach Afrika – und Theater, das sind meine Welten, seit Kindheitstagen. Natürlich hatte ich sie zuerst in meiner Vorstellungswelt erlebt, in Spielen und schließlich in einer immer realeren und tiefergehenden Art. Es ist lustig, aber mit deiner Frage hast du mich daran erinnert, dass ich an dem ersten Tag nach meiner ersten Afrikareise zum ersten Mal in ein Theater ging, um dort zu arbeiten, allerdings noch nicht als Fotografin. Im Grunde wurden beide Welten von mir gleichzeitig entdeckt. Und über all die Jahre blieb ich in ihnen. Sie haben sehr viele Gemeinsamkeiten. Theater hat seinen Ursprung in vergangenen religiösen Kulten und obwohl es heute an einem völlig anderen Ort angesiedelt ist, kann es immer noch ein Weg zu einem spirituellen Erlebnis sein, zumindest bei bestimmten Arten von Theatern. Religiöse Rituale in Afrika an sich haben viel von ihrer ursprünglichen Form beibehalten, sie sind authentisch, total, sie wirken manchmal wie moderne Performances. Die im Theater und bei afrikanischen Ritualen verwendeten Instrumente sind ähnlich. In beiden gibt es Masken und Kostüme um Metamorphosen möglich zu machen, die es erlauben, eigene, persönliche Grenzen zu überschreiten. In beiden Fällen erleben teilnehmende Personen eine Bewusstseinänderung, Schauspieler und Medien erleben Gefühle, die nicht ihre eigenen sind, oder vielmehr entdecken sie unbewusste Gefühlswelten in sich selbst. Es gibt dort eine große Empathie. Theater und religiöse Rituale sind Fenster in eine andere Realität, zu einer nicht erfassten Wahrheit, die sich manchmal nur für den Bruchteil einer Sekunde offenbart und die häufig schwer in Worte zu fassen ist. Ich denke, dass Afrika mich sprituell geöffnet hat.

Jens Pepper: Welche Länder, welche Regionen, welche Begegnungen haben dich bisher am meisten in Afrika fasziniert?

Magda Hueckel: Auf jeden Fall gefällt mir Westafrika am besten, wegen der Kultur. Mali und Benin sind meine Lieblingsländer. Großartige Musik, Handarbeiten, Kultur. 98% der Menschen in Benin folgen der Voodoo-Religion. Ihre Zeremonien haben mich benommen gemacht, diese Maskeraden, die Opferrituale, die ekstatischen Tänze, die Besessenheit durch Geister. Spititualität durchzieht und bestimmt das gesamte gesellschaftliche Leben. Unglücklicherweise kann sie auch eine Quelle des Missbrauchs sein, so wie andere Religionen auch.

Jens Pepper: Du sagst, Afrika habe dich für Spiritualität geöffnet. Ist dir Spiritualität wichtig in deinem Leben oder bist du lediglich fasziniert von ihr? Wie sieht es mit der Spiritualität in der katholischen Kirche aus? Du bist immerhin in einem katholischen Land aufgewachsen. Hat dich die katholische Spiritualität beeinflusst?

Magda Hueckel: Es begann mit einer Faszination für Spiritualität und Rituale und am Ende hatte sich meine Art Realität wahrzunehmen verändert. Ich erinnere mich daran, dass mir ein Zulu Sanoma einmal erzählte, dass die Menschen im Westen durch den Zivilisationsprozess ihre Fähigkeit verloren hätten, Kontakt zur unsichtbaren Welt aufzunehmen, dass sich ihre Intuition abgestumpft hätte. Das hat mich nachdenklich gemacht. Ich habe in Afrika Dinge gesehen und erlebt, die sich schwer auf rationale Art und Weise erklären lassen. Und selbst, wenn es möglich ist, verlieren sie dadurch. Ich bin ein großer Anhänger der Wissenschaften, aber ich bin der tiefen Überzeugung, dass unsere rationalen Werkzeuge, die wir benutzen [um Dinge zu verstehen], zu primitiv sind für so manch ein Mysterium. Ich denke, dass meine Faszination für afrikanische Spiritualität ihren Ursprung in dem inneren Bedürfnis hatte, die eigene Wahrnehmungsmöglichkeiten zu erweitern, auch um Ordnung zu finden. Ich habe viel dadurch gelernt, dass ich Afrikaner beobachtet habe. Ich schätze ihre Bescheidenheit, ihre Fähigkeit Dankbarkeit zu fühlen, die Akzeptanz. Der katholischen Kirche war ich vor allem in meiner Kindheit und als Teenager ausgesetzt. In der Grundschule hatte jeder den Religionsunterricht besucht. Ich erinnere mich an Gefühle der Schuld, der Angst und unglücklicherweise an eine Menge für mich unbegreifliche Rituale. Heute ist die Kirche in Polen sehr politisch, was ich völlig ablehne. Ich habe in Afrika an christlichen Ritualen teilgenommen und sie waren vollkommen anders als hier, voller ekstatischer Energie.

Jens Pepper: Wir könnten leicht mit unserer Konversation fortfahren aber ich denke, dass wir sie jetzt beenden. Der Leser, der dich hier durch die Fragen und Antworten ein wenig kennenlernt, hat ja die Möglichkeit tiefer in deine Arbeit einzutauchen, wenn er deine Homepage besucht. Deshalb sag mir doch bitte zum Schluss, was deine Pläne für 2018 sind. Wird es ein neues Buch geben? Wird es eine Ausstellung geben, vielleicht sogar in Deutschland? Oder wirst du gar mit etwas vollkommen Neuem beginnen?

Magda Hueckel: Ja, ich lade alle Leser gerne zu einem Besuch auf meiner Homepage www.hueckel.com.pl ein. Ich habe für kommendes Jahr eine Menge Pläne. Neben zwei Filmen werde ich auch mit einer neuen Serie von Selbstportraits beginnen, die dann in der ‚Body dyzmorphic adoration‘-Ausstellung zu sehen sein werden, die ich mit der Malerin Małgorzata Wielek Mandrela vorbereite. Ich werde auf mich selbst schauen im Kontext meiner Erkrankung. Ich kehre zu den für mich faszinierenden Themen Körperlichkeit und Deformation zurück. Ich möchte die Tabuisierung von Krankheiten herausfordern, die Wahrnehmung und Stigmatisierung von kranken Menschen. Es wird die neunte Serie von Selbstportraits sein und ich denke auch über ein Buch darüber nach und halte Ausschau nach einem Verleger. Und was eine Ausstellung in Deutschland betrifft, gute Idee!

Klaus Picher fotografiert von Florian Rainer

Magda Hueckel wurde 1978 in Polen geboren. Sie studierte Bühnenbild und Fotografie an der Fakultät für Malerei und Grafik der Kunstakademie Danzig. Zunächst als Bühnenbildnerin aktiv. Seit ca. 10 Jahren Theaterfotografin in Polen. Zusammen mit ihrem mann Tomasz Sliwinski drehte sie den Dokumentarfilm „Our Curse“, der 2015 für einen Oscar nominiert war. Hueckel lebt in Warschau.

Dieses Interview erschien erstmals in dem Buch „Gespräche über polnische Fotografie“ von Jens Pepper (Klak Verlag Berlin, 2017, ISBN 978-3-943767-39-1)

www.hueckel.com.pl

www.nytimes.com/video/opinion/100000003489430/our-curse.html

Foto links: Magda Hueckel