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Jens Pepper: Du wirst jetzt erstmals einen Gesamtüberblick über dein fotografisches Schaffen in der Galerie Carpentier zeigen. Das wird, schon wegen der Größe der Räume, nur sehr pointiert möglich sein, aber eine parallel dazu erscheinende Publikation wird einen tiefergehenden Einblick ermöglichen. Du hast in diesen rund drei Jahrzehnten, in denen du auch durchgehend als Dozent tätig warst, ein sehr vielfältiges Werk geschaffen, das sich nicht so einfach erschließen lässt. Aus was für einer persönlichen Motivation heraus sind die Arbeiten entstanden? Ich frage das, weil ich weiß, dass du auch ein gewisses Sendungsbewußtsein in dir trägst.

Oliver S. Scholten: Ja, da hast du recht. Dass ich bei 30 Jahren nur einen kleinen Teil zeigen kann ist aber natürlich. Die räumliche Begrenzung lässt mir allerdings die Möglichkeit Spots zu setzen. Man kann ja über die Auswahl einen Spannungsbogen innerhalb des Mediums schaffen. Und was mir immer wichtig bei Ausstellungskonzeptionen ist, ist die Gestaltung eines Erlebnisraums, eines Raums, der Lust auf Mehr macht. Es ist wie mit einem Roman; man liest die ersten Seiten, verschlingt denn Rest, und ist dann begierig auf die Fortsetzung. Ob ich dem gerecht werde, weiß ich nicht. Aber auch das visuelle Medium ist eingängig, genauso wie das verbale. Und da du auf meine Tätigkeit als Dozent und meinen Anspruch hingewiesen hast, und damit auch auf die Erwartungen der Hörer, denke ich, dass das passt.

Es macht mir ja Freude, meine eigene Arbeit mit dem Vermitteln zu verbinden. Ich will zeigen, dass Fotografie mehr sein kann als die bloße Abbildung der gegenständlichen Umwelt. Das ist geschichtlich nichts Neues, für die Neueinsteiger in Sachen Fotografie aber häufig schon. Dies und die eigene künstlerische Position zu vermitteln, macht mich durchaus zufrieden.

Du fragst nach der persönlichen Motivation. Ich denke, es ist dieselbe, wie bei allen ernsthaften Künstlern: sich mit mir selber und der Welt auseinanderzusetzen. Wenn man dann noch etwas schafft, das anderen etwas gibt, mit dem sich andere identifizieren können, dann macht man möglicherweise eine gute Arbeit. Ein wenig Selbsttherapie ist natürlich immer mit dabei. Ich hatte übrigens schon von klein auf ein Faible für die Fotografie.

Jens Pepper: Ein Fotograf, dessen Werk dich früh interessiert und das dich förmlich dazu verführt hatte, Fotografie als Beruf zu erlernen, zunächst einmal ganz klassisch, ist Arthur Tress. Was am Werk Tress‘ war so lebensbestimmend für dich?

Oliver S. Scholten: Tress hat mich zur Fotografie verführt, aber nicht dazu, diesen Beruf zu erlernen. Das geschah eher durch einen Zufall. Ich habe mich schon immer für Kunst interessiert, obwohl es vom Elternhaus und von der Verwandschaft her keinerlei Hinführung in diese Richtung gab. Ich bin über den Kunstunterricht in der Schule mit Positionen der 20er und 30er Jahre konfrontiert worden, die mich fasziniert haben. Nicht nur Fotografie, sondern auch Malerei, experimentelle Kunst und Architektur. Da ging es allerdings nicht unbedingt um Kunstgeschichte sondern um Fragen der Form und Wirkung. Später waren es dann Freunde, die Kunst an der damaligen HDK [Hochschule der Künste], heute UDK [Universität der Künste], studiert haben und zu denen ich regen Kontakt hatte. Deshalb war ich auch oft dort.

Ich hatte mich übrigens zwei Mal an der HDK beworben, wurde aber mit dem Hinweis auf eine nicht ausreichende durchschnittliche Begabung und dass ich da noch nachlegen müsse abgelehnt. Nebenbei hatte ich mich aber auch am Lette-Verein beworben und wurde ad hoc angenommen. Und da auch ein wenig Druck von zu Hause kam, nahm ich dort an. 1985 habe ich dann die Ausbildung bei Lette abgeschlossen.

Fotografie als Brotberuf hat mich allerdings nie interessiert. Mir war immer das Medium an sich wichtig. Die Ausbildung zum Fotografen hat da sicherlich einen soliden technischen Grundstein gelegt, aber ich habe mich immer als Künstler empfunden. Ich hatte einen umfassenderen Blick auf das Medium, als man das von Fotografen normalerweise gewohnt war. Ich habe dann in der Anfangszeit auch immer mehr mit Bildhauern, Malern oder Performern zusammen ausgestellt als mit Fotografen. In der Kunstwelt fühlte ich mich mehr zu Hause.

Zu dieser Zeit war ich nebenher auch an der heute legendären Werkstatt für Fotografie, die Michael Schmidt in Berlin Kreuzberg gegründet hatte. Die Dozenten dort haben mich endgültig in die eigenverantwortliche künstlerische Fotografie getrieben. Sie waren kritisch und teils unnachgiebig in ihrer Haltung. Das hat mir einiges bewußt gemacht. Dort bin ich auch mit Bildern von Arthur Tress konfrontiert worden, ebenso wie mit Werken von Diana Arbus, Ralph Gibson und Robert Frank, die alle ebenfall eine wichtige Rolle für mich spielten. Was mich geprägt und tief beeindruckt hat, war die Einfachheit diese Bilder und ihre unglaubliche psychologische Wirkung. Und dann ihre klare Bildaufteilung; nichts ist zu viel, nichts fehlt, nichts stört die Aussage, alles ist genauso, wie es sein muss. Brillant. Die Fotos konnten auch verstörend sein. Aber die Störung ist für mich ein wesentlicher Faktor in der Kunst. Wesentlich bedeutsamer als die Schönheit. Zumindest in der Moderne. Obwohl. Wir befinden uns ja bereits in der Postmoderne. Oder Post-Post-Moderne?

Jens Pepper: Als wir uns 1988 kennengelernt haben, oder war es 1989, hattest du in der Galerie Paranorm in Berlin drei Bleikuben ausgestellt, deine damals aktuelle Form der Auseinandersetzung mit dem Thema Fotografie mittels eines Objekts unter Auslassung des klassischen Bildes.

Oliver S. Scholten: Nicht ganz. Das klassische Bild war vorhanden, nur nicht sichtbar. In der Fotografie geht es, ebenso wie in der Malerei, der Literatur und im Film, immer um die Beziehung zwischen Autor und Rezipient. Bei der Rezeption von Fotografie gibt es allerdings oft das Mißverständnis, dass man meint, sie hätte im Allgemeinen etwas mit Realitätsabbildung zu tun. Dass dies nicht stimmt, sehen wir z.B. täglich in der Werbefotografie. Dass Realität abgebildet wird, gilt also lediglich für Teilbereiche der Fotografie, für die Dokumentarfotografie zum Beispiel. Genau darauf aufmerksam zu machen und aufzuzeigen, dass die Fotografie kein Einheitsbrei in bezug auf technische und ästhetische Mittel ist, lag mir damals sehr am Herzen. Das hatte wohl mit dem noch nicht lange zurückliegenden Abschluss meiner sehr kommerziell orientierten Fotografenausbildung zu tun.

Aber zurück zum Objekt „eins – fünf – null“ von 1989. Es war eine Arbeit, die ich zum 150- jährigen Jubiläum der Fotografie gemacht hatte. Drei Bleiblöcke à 150 x 150 mm – für jedes Jahr ein Millimeter – in die sechs Dias von mir eingegossen wurden. Im ersten Block war ein Dia der ersten so bezeichneten fotografischen Aufnahme von Niecephore Niepce, der „Blick aus dem Fenster“. Im zweiten Würfel waren Aufnahmen technischer Entwicklungsschritte in der Fotografie: die erste Spiegelreflexkamera, der erste Microchip in der Fotografie usw., sowie ein Dia eines Passbilds von mir. Im letzten Block war nichts, er war leer, sozusagen als Sinnbild für das, was noch kommen mag. Die Dias waren eingebettet in Metallröhren, und diese wiederum waren eingeschlossen in Kuben, die ich durch Einschmelzen von alten berliner Bleiwasserleitungen vom Schrottplatz selber hergestellt habe. Präsentiert wurden die Blöcke dann auf schmalen, rötlichen, edel wirkenden Holzstelen. Der Betrachter musste also glauben, was ich behauptete, denn sichtbar war nichts. Man hätte die Bleiblöcke nicht einmal röntgen können.

Ich habe die Arbeit übrigens tatsächlich zum ersten Mal in der Galerie Paranorm gezeigt, danach aber auch noch in zwei weiteren Ausstellungen. Einmal, ich glaube im selben Jahr, in einer Ausstellung mit den Titel „Skulptur und Fotografie“, und dann in einer Ausstellung der Senatssammlung mit dem Titel „Grafik, Malerei und Installation“. An den Titeln erkennen wir, dass der Umgang mit Fotografie in den Neunzigern viel freier war als heute, wesentlich weniger auf technischen Schnickschnack ausgerichtet. Es ging mehr um eine inhaltliche Untersuchung des Mediums. Ich finde, die Fotografie war damals den anderen Kunstgattungen gegenüber wesentlich emanzipierter, als sie es heute ist.

Jens Pepper: Du hast dich damals fast komplett der normalen Fotografie verweigert und nicht einmal private Erinnerungsfotos gemacht. Entstanden sind in dieser Zeit Objekte, Installationen, Zeichnungen, vieles davon sehr konzeptionell. Diese Arbeiten konnte man zwar auch nur aus ästhetischen Gründen mögen, aber du wolltest mit ihnen auch eine Nachricht, eine Message verkünden. Die Verpackung, wie ich es jetzt mal nennen will, war für dich vor allem Vehikel für eine tieferliegende Information. Im klassischen Sinne warst du also Künstler, denn dass man als Fotograf auch Künstler war bzw. sein konnte, das war damals ja noch relativ neu im Denken der Menschen.

Oliver S. Scholten: Wie gesagt, das hatte mit meiner klaren Distanzierung zur kommerziellen Fotografie nach meiner Ausbildung zu tun, mit meinen Kontakten zur damals jungen berliner Kunstszene und auch mit der bereits erwähnten Werkstatt für Fotografie, wo es mit Herrmann Stamm und Gosbert Adler Dozenten gab, die völlig andere Wege in der Fotografie gingen, die jede Grenze sprengten. Der Autor, das Anliegen, die Aussage waren wichtig. Die Fotografie war nur der Transporteur der Aussage, was jedoch nicht hieß, dass auf technische Qualität kein Wert gelegt wurde. Es reizte mich nicht mehr, Erinnerungen oder Umwelt einfach abzubilden. Das gab es auf Reisen an jedem Postkartenstand. Heute bedauere ich das etwas. Die Erinnerung braucht Stützen, vieles ist mir dadurch verloren gegangen. Aber das war für mich damals keine Option in der Fotografie. Heute kann ich ihre Funktionen trennen.

Ich fing an, mich dafür zu interessieren, warum Leute fotografieren; wo lag der Reiz und was war das für ein Bedürfnis? Und was für eine Rolle spielte die Bildmaschine in diesem Prozess? Ich las zu der Zeit Susan Sonntag, Roland Barthes, ein wenig Baudrillard und Flusser. Ich bin kein Literat oder Philosoph, habe mich da auch nur ansatzweise herangetastet. Ich fand es damals aber unglaublich spannend, über das Medium zu theoretisieren, wenn auch zugegebenermaßen eher dilettantisch, im positiven, eigentlichen Wortsinn. Dieser Aspekt fehlte damals in den Ausbildungen zur Fotografie völlig.

Es gab einen Satz, ich glaube, er war aus Roland Barthes „Die helle Kammer“, er könnte aber auch von Flusser gewesen sein, bitte korrigiere mich: „das fotografische Bild ist voll, es gibt nichts mehr hinzuzufügen“. Das saß! Das war wie eine Gebrauchsanweisung, eine Aufforderung, in die dritte Dimension zu gehen. Ich habe die Fotografie aber immer auch schon als einen ganzheitlichen Prozess betrachtet: die Kamera, die Aufnahme, das Entwickeln – heute die Nachbearbeitung – im Negativ- und Positivprozess, die Präsentation und auch die praktische und gedankliche Vorbereitung für ein Bild, das entstehen sollte. Einen einzigen Part davon herauszulösen oder aus der Hand zu geben, wäre mir nie in den Sinn gekommen. Mir war also klar, dass ich auch den Prozess vor der Aufnahme, während der Aufnahme und danach untersuchen wollte. Ganz im Sinne der zwanziger und dreißiger Jahre, vielleicht so wie in der Hochzeit der Bauhaus-Fotografie. Um Fotografie von allen Seiten betrachten zu können, war es für mich logisch, sie dreidimensional wahrnehmbar zu machen. Dabei war es für mich wichtig, sie in ihrer Funktion kritisch zu hinterfragen. Ich wollte definitiv nicht effekthascherisch sein oder Illusionen oder sonstwas erzeugen, wie es heute auf den Fotomessen mit all den neuen 3-D Simulationen der Fall ist.

Jens Pepper: Ob das Zitat von Flusser oder Barthes stammt kann ich dir leider auch nicht sagen. Mir waren die Theoretiker aber auch nie so wichtig. Da werden wir wohl googeln müssen oder jemanden fragen, der das alles gelesen und verinnerlicht hat. Oder du findest die Stelle in deinen Büchern wieder.

Wie hältst du das heute? Bist du inzwischen bereit ,Arbeitsprozesse zu delegieren? Du wärst nicht der einzige, der diesen Weg geht oder gegangen ist. Ich habe gerade mal wieder die großartige Mapplethorpe-Biografie von Patricia Morrisroe gelesen, in der sie ausführlich darauf eingeht, dass Mapplethorpe nie seine Abzüge selbst gemacht hat. Er hatte immer einen Laboranten beschäftigt.

Oliver Scholten: Na, dann überlassen wir einfach mal die Recherche den echten Theoretikern, die müssen ja auch beschäftigt werden. Zur Frage: da spielen einerseits die persönlichen, auch finanziellen Verhältnissen, eine Rolle, andererseits ist es eine schwierige emotionale, und dann auch eine technische Entscheidung. Die Frage ist so multiple, dass ich überlegen muss, wo ich ansetze.

Früher waren die Verhältnisse wesentlich einfacher. Man hat Farbe oder Schwarzweiß fotografiert und dann im Labor die Sachen umgesetzt oder umsetzen lassen. Farbfotografie war ein sehr statischer Prozess, während das Hantieren im Schwarzweiß-Labor eher dem Umgang mit Kochrezepten ähnelte. Viele Fotografen haben nur im Schwarzweißbereich selbst Hand angelegt, weil dort der Interpretationsspielraum sehr viel grösser war. Dies alles hat sich mit der Digitalfotografie massiv verändert. Allein die permanent durch Weiterentwicklung sich verändernden Materialien und Techniken führen zu einer stetigen Veränderung der Bildästhetik und zu einer neuen Wahrnehmung von Bildern, heute um ein Vielfaches schneller als noch vor einige Jahren. Das hat alles sehr unübersichtlich gemacht.

Momentan drucke ich für Ausstellungen alles selbst. Dies ist aber eher eine Frage des Zeitablaufs und der Kosten. Ich nutze den schnellen Marktwertverfall von Technik und arbeite immer mit Geräten der letzten Generation oder davor, was für mich Kostenvorteile in der Anschaffung hat. Die Verwendung älterer Technik schadet den Inhalten der Bilder nicht. Der Besitz der Technik gibt mir zudem die Möglichkeit ad hoc zu arbeiten und Dinge auszuprobieren. Ich kann alles direkt und sofort machen, ohne dass ich mit einem Angestellten oder einem Mitarbeiter einer Firma Sachen besprechen muss. Ausserdem muss jemand, den man beschäftigt, auch bezahlt werden.

Wenn Verkäufe, oder eine grosse Produktion für ein Bild oder ein Objekt anstehen, dann gebe ich das natürlich auch in qualifizierte oder gar qualifiziertere Hände. Es ist ja eine Illusion, dass der Autor alles selbst machen kann oder muss, egal in welchem Bereich. Ich arbeite allerdings sehr gerne mit den eigenen Händen und Apparaten. Wenn ich es mir leisten könnte, würde ich allerdings mehr Prozesse abgeben. Dann hätte ich mehr Zeit zum Fotografieren und auch mal zum Ausspannen.

Jens Pepper: In den letzten Jahren hast du dich wieder mehr dem klassichen Bild zugewandt, beispielsweise dem Selbstportrait oder einer Serie, die du „Splash“ bezeichnest, und in der du die frischen Spuren u.a. von zeborstenen Flaschen, fallengelassenen Eiern oder von Erbrochenem dokumentierst, das Auseinanderspritzen fallengelassener Dinge eben. Das schöne Bild ist immer noch nicht dein Ding, oder?

Oliver S. Scholten: Na ja, wie wir wissen, liegt die Schönheit im Auge des Betrachters. Gerade in den letzten Jahren hat sich ein Trend in der Fotografie entwickelt, verlassene und desolate Orte zu zeigen. Vielleicht ist das eine Reaktion auf die immer glatter und technisch perfekter werdende Umwelt. Diese Bilder werden dann allerdings meist massiv durch diverse Fotofilter gejagt und zu Tode verkitscht. Ich halte es da lieber mit der realen Darstellung und ihrer Interpretation, wie zum Beispiel in meiner fortlaufenden Serie „a perfect world“. In diesen von mir oft ironisch gewählten Zusammenhängen, ich füge ja immer zwei oder mehr Motive zu Diptychen oder Triptychen zusammen, gibt es auch schöne Bilder, wie ich finde. Bildgestaltung und Bildaufteilung folgen ja gewissen Regeln. Und der eine denkt beim Anblick von einem Rind auf einer Wiese an eine heile Bauernwelt, der andere an ein Steak. Die Bildwahrnehmung hat also vor allem auch etwas mit der Psyche des Betrachters zu tun.

Ich zitiere mich einfach mal selbst: „Ich bin weniger zuständig für das Schöne, sondern eher für das Unangenehme, das im Schafspelz daherkommt und so tut, als wäre nichts gewesen.“ Natürlich gilt nichts für immer und ewig. Ich bin zwar auf der Suche nach Harmonie und Schönheit, aber irgendwie sehe ich immer die Störung. Und wie ich schon vorhin sagte, interessieren mich diese Störungen auch. Sie machen einem bewusst, dass nichts selbstverständlich ist. Wie sagte Robert Häusser einmal?: „Ich mag den Sonnenuntergang sehen und erleben, aber ich muss ihn nicht fotografieren.“

Jens Pepper: Erzähle mir was über die Serie „a perfect world“.

Oliver S. Scholten: Die Reihe „a perfect world“ ist reine Dokumentarfotografie, verhaftet im Subjektivismus. Das heißt, dass sie beispielsweise mit der als so typisch deutsch verorteten Dokumentarfotografie der Bechers nichts zu tun. Es sind zum Teil brutal subjektiv fotografierte Ausschnitte aus meinem ganz persönlichen Alltag. Diese haben in ihrer Art aber einen Symbolcharakter für soziale Ereignisse, psychische Zustände oder zufällige Begebenheiten des alltäglichen Seins, wie sie zeitgleich überall vorkommen. So sind die Arbeiten einerseits persönlich, andererseits aber auch allgemeingültig. Jeder Mensch lebt für sich allein, doch werden Erfahrungen und Erlebnisse ähnlicher Art jeden Tag tausendfach gemacht. Um dieses Spannungsfeld der ganz persönlichen und gleichzeitig allgemeinen Erfahrung sichtbar zu machen, ist die Serie „a perfect world“, wie schon gesagt, in Diptychen, manchmal auch in Triptychen, angeordnet. Das sind sozusagen zwei Pole, die sich beeinflussen, die Spannung erzeugen oder abmildern. Ort und Zeit sind in diesen Arbeiten nicht entscheidend, nur der inhaltliche Zusammenhang zählt. Ralph Gibson hat in den achtziger Jahren ähnlich gearbeitet, aber nahezu ausschliesslich in Schwarzweiß. Das hat mich damals sehr beeinflusst. Das habe ich für mich weiterentwickelt und in der Aussage radikalisiert. Ich mache die dafür verwendeten Aufnahmen, alle ausschließlich in Farbe, mit einer sehr kleinen, kompakten Digitalkamera, die ich fast immer und überall bei mir haben kann. Die Ergebnisse sind dann allgemeingültige Kurzgeschichten mit einem persönlichem Ansatz.

Jens Pepper: Du unterrichtest, wie schon erwähnt, seit über 30 Jahren an der VHS Kreuzberg, am Photocentrum, das aus der Werkstatt für Photographie von Michael Schmidt hervorgegangen ist. Das, was es mal war als Werkstatt, ist das Photocentrum heute natürlich nicht mehr, aber ihr Dozenten seht euch schon in einer gewissen Tradition und versucht das Niveau der Ausbildung hoch zu halten, definitiv höher, als man es von einer VHS erwarten würde. Kommt das an, bei den Kursteilnehmern? Und habt ihr da auch Rückendeckung seitens der Verwaltung; trägt diese euer Engagement mit, dass ihr nicht nur das 1 x 1 der Kamerahandhabung und der Labortechnik als Bespaßungsmaßnahme vermitteln wollt?

Oliver S. Scholten: Mit dieser Frage rührst du auch noch nach Jahrzehnten an verschiedenste Befindlichkeiten. Die Werkstatt für Fotografie von Michael Schmidt hatte sich, nachdem er anfing sich persönlich rauszuziehen, massiv verändert. Es gab damals verschiedene Auffassungen wie die Werstatt weiterzuführen sei. Was die Werkstatt auszeichnete war, dass einige heute sehr berühmte Fotografen wie Robert Frank und Diane Arbus hier ihre Bilder zeigten und teilweise auch Workshops gaben. Die Werkstatt in dieser Zeit war in bezug auf die eigentliche VHS sehr autonom und galt auch als etwas elitär. Das hat dann letzten Endes zu Ihrem Aus geführt, was von Seiten der VHS ausging. Genauer möchte ich darauf nicht eingehen, das ist zu komplex. Dieses Thema wird hoffentlich auch in der Ende des Jahres bei C/O Berlin stattfindende Ausstellung über die Werkstatt angeschnitten.

Interessant ist, dass diese besondere Qualität, die anspruchsvollere Herangehensweise in der Lehre, jenseits von visueller Unterhaltungsindustrie, auch uns als Nachfolger immer noch anhaftet: Was für die einen ein Qualitätsmerkmal ist, ist für die anderen ein Makel. Wir galten und gelten immer noch als irgendwie arrogant. Peter Held hatte die letzten Jahrzehnte als Fachbereichsleiter Fotografie unseren immer noch irgendwie als Staat im Staate wahrgenommenen Bereich gegen die verschiedenen VHS-Leitungen verteidigt, die alles etwas „Normaleres“ wollten. Nun haben personelle Wechsel stattgefunden und langsam setzt sich, endlich, ein Bewußsein für die Qualität und auch Einzigartigkeit dieses Bereichs innerhalb der VHS durch. Im Rahmen dieser Neuorientierung wird es zum ersten Mal nach 30 Jahren eine gemeinsame Ausstellung der Dozenten des jetzigen Photocentrums geben. Viel zu spät, aber gut. Ausstellungen mit Kursteilnehmern hatte es hingegegen immer wieder gegeben, was auch gut bei diesen ankam. In dieser Hinsicht war Kreuzberg immer besonders. Einige dieser Hörerausstellungen konnten und können mit professionellen Ausstellungen in Galerien oder gar Museen dieser Stadt durchaus mithalten und brauchten und brauchen einen Vergleich nicht zu scheuen.

Derzeit verändert sich allerdings gerade die Hörerschaft. Da in unserer Gesellschaft alles immer schneller, kurzlebiger und mobiler wird, lässt bei manchen auch die Fähigkeit zu einer notwendigen, oft zeitaufwändigen Auseinandersetzung mit einer Thematik nach. Etliche Kursteilnehmer verspüren auch gar keinen Wunsch mehr, tiefer in eine Materie einzutauchen. Die Hörer wollen heute oft schnelle Ergebnisse. Alles ist sehr viel unverbindlicher geworden; das macht das Lehren sehr schwierig. Und dann muss man natürlich zugeben, dass heute an der VHS die meisten Hörer, zumindest am Anfang, die Fotografie nur als Hobby sehen. Ich sehe aber auch, dass es gleichzeitig wieder eine Sehnsucht nach dem haptischen Analogen gibt.

Jens Pepper: Wohin wird dich dein Weg als Fotograf führen?

Oliver S. Scholten: Hm, ein wenig provokant, diese Frage. Visuell oder visionär? Natürlich weiß ich das nicht oder kann es auch nicht vorhersehen. Das hängt von verschiedenen Faktoren ab, die nicht meiner Kontrolle unterstehen. Aber generell weißt du ja, dass ich mich nicht allein als Fotograf empfinde, sondern als jemanden, der auch von der Kunstseite her auf dieses Medium schaut und versucht, es zu verstehen. Das unterscheidet mich von vielen anderen Fotografen und auch von vielen Künstlern, die Fotografie als Werkzeug nutzen.

Ich kann ebenso wenig wie andere in die Zukunft sehen, allerdings kann ich sagen, das sich die Bedingungen in diesem technischen Medium ständig verändern werden und das dies dann auch Einfluss auf den Umgang der Fotografen damit haben wird. Mich persönlich interessieren vor allem Veränderungen des öffentlichen Umgangs mit Fotografie und mit fotografischen Bildern, und zwar sehr viel mehr als die ständig neuen Technologien, die permanent auf den Markt kommen.

Wohin führt der Handykameraboom? Wird es bald keine „echten“ Kameras mehr geben? Hat das flache Bild ausgedient? Verliert die Fotografie ihre Haptik? Gibt es eine Retro-Gegenbewegung, die überleben wird ? Wie reagiert die Industrie auf die übriggebliebenen Analogfans? Das sind alles Fragen, auf die ich nicht antworten kann ohne unseriös zu wirken. Ich kann nur auf das reagieren, was da ist. Und das mache ich.

Das klassische, fotografische 2D-Standbild, analog oder digital, wird auf jeden Fall nicht aus meinem Leben verschwinden. Und auch Objekte könnten künftig in meiner Arbeit wieder eine Rolle spielen. Dann werde ich vielleicht wieder kuratieren,Vorträge halten und eventuell auch wieder eine kleine temporäre Galerie und ein Werkatelier für Fotografie betreiben, wie ich sie in den vergangenen Jahren im Wedding hatte und wo ich Kollegen und Talente gezeigt sowie privat unterrichtet habe. Auch als Dozent, z. B. am Photocentrum, werde ich sicherlich weitermachen.

Oliver S. Scholten

Oliver S. Scholten ist gebürtiger Berliner.
Er lebt, fotografiert und unterrichtet seit
30 Jahren in seiner Geburtsstadt.

www.position-fotografie.de

Polaroid by pepper.