Als ich Miron Zownir zum ersten Mal in einem Berliner Café im Stadtteil Prenzlauer Berg traf, hatte ich gerade erst begonnen, mich intensiv mit seinem fotografischen Werk auseinanderzusetzen. Wenige Monate vorher, im Sommer 2016, war seine Arbeit mit einer fulminanten Ausstellung in den Hamburger Deichtorhallen geehrt worden und hatte in den Medien einige Aufmerksam erhalten, auch weil seine Präsentation parallel zu zwei weiteren großartigen Ausstellungen von Ken Schles und Jeffrey Silverthorne am selben Ort stattfand. Ein Dreierpack an fotografischer Ausdruckskraft sozusagen. Ich war damals neugierig auf die Arbeit von Miron Zownir geworden, der als „Poet der radikalen Fotografie“ Furore machte und dessen Aufnahmen mir sehr gefielen und hatte ihn in einer Emailkonversation für meinen Blog „Obst und Muse“ interviewt.

Zownir, der 1953 in Karlsruhe geboren wurde und in den 1970er Jahren nach Berlin zog, begann in der in Ost und West geteilten Frontstadt des Kalten Krieges als Autodidakt zu fotografieren. Schon die ersten Schwarzweißaufnahmen – Farbe spielt in seiner Arbeit bis auf den heutigen Tag keine Rolle – zeigen, womit er sich auch in Zukunft beschäftigen würde: die Lebenswelten und Lebensumstände von Menschen, die bewusst oder gezwungenermaßen ein Randdasein innerhalb bürgerlicher Gesellschaften führen, die sich freiwillig dem Mainstream entziehen oder die – obdachlos, verarmt, drogensüchtig, einer ethnischen Minderheit zugehörig – von diesem Mainstream verachtet und gemieden werden. Im vergangenen Jahr wurden diese frühen Berlinfotografien der Jahre 1977 bis 1980 zusammen mit Aufnahmen, die Zownir dann wieder ab 1997 in Berlin machte, in einer umwerfend gestalteten Publikation mit dem Titel BERLIN NOIR [1] veröffentlicht. Für die PHOTONEWS schrieb ich damals die noch heute gültigen Sätze: „Mit BERLIN NOIR hat Zownir ein kraftvolles Buch über die deutsche Hauptstadt vorgelegt, ein Werk, das Straßen-, Portrait- und Dokumentarfotografie eindrucksvoll zusammenführt, einen modernen, episodenhaften Großstadt-Bildroman, eine Art „Berlin Alexanderplatz“ der Jahrtausendwende, nicht als Film, nicht als Text, sondern in expressiver Schwarz-Weiß-Fotografie. Jedes Bild eine Geschichte, ein Fragment dessen, was Stadt-Leben ist Zwischen all den anonymen Menschen auch ein paar Promis, denen Zownir zufällig begegnet ist oder mit denen ihn Freundschaften oder Bekanntschaften verbinden, wie Lou Reed, Helmut Berger, Ben Becker, Iris Berben, Hannelore Elsner. Der Puffmutter Molly Luft wird ebenso eine Buchseite gewidmet wie dem Schauspieler Biröl Ünel und dem Schriftsteller Harry Hass.“[2]

Zownirs Bilderjagdreviere sind westliche Metropolen wie London, New York, Los Angeles und Berlin ebenso wie osteuropäische Städte wie Moskau und St. Petersburg, Kiew und Odessa. 2018 fotografierte er wochenlang in Rumänien, unter anderem in Bukarest und Cluj-Napoca. Fast immer nähert er sich seinen Motiven zu Fuß. Im klassischen Sinn ist Miron Zownir ein Straßenfotograf, einer der stundenlang durch die Gassen und über die Boulevards wandert auf der Suche nach dem lohnenden Bild. Allerdings greift die Bezeichnung „Street Photographer“ bei ihm etwas zu kurz, denn er interessiert sich nicht bloß für eine Skurrilität, einen Effekt, eine formal interessante Alltagssituation, wie es viele seiner Kollegen tun. Zownir interessiert sich für die Conditio Humana, er nähert sich bewusst den Menschen. Sie will er portraitieren in ihrem Dasein, in ihrem Glück oder Elend, kämpfend oder verloren. Deshalb ist Zownir wohl besser als Dokumentarfotograf zu bezeichnen, als einer, der sich die Arbeitsweise der Straßenfotografen angeeignet hat.

Die Kunst Zownirs besteht darin, dass er sich seinen Motiven diskret und respektvoll nähert, manchmal spricht er mit den Menschen, andere Male nutzt er eine sich ergebende Gelegenheit, den zufällig erlebten richtigen Moment, um ein Foto zu machen. Eine heikle Angelegenheit, insbesondere in der EU, in der die Regeln für das Fotografieren von Menschen immer restriktiver werden. Zownir versteht es, mit schwierigen Situationen umzugehen, intuitiv findet er die richtigen Worte, die richtige Handlungsweise. Ist das eine über Jahrzehnte gewachsene Routine? „Klar automatisiert sich nach Jahren der Fotografie eine Art Routine, er gibt Erfahrungswerte, die einem eine gewisse Sicherheit und Gelassenheit geben. Aber gleichzeitig hat jede Situation ihre eigene Dynamik und jeder Mensch ist verschieden. Es gibt die unterschiedlichsten Begegnungen auf die man individuell reagieren muss. Nervös, unsicher oder ängstlich fühle ich mich dabei nicht. Aber manchmal bin ich vielleicht etwas angespannter, vorsichtiger, abwartender und ich versuche situativ den richtigen Moment zu erfassen. Alles in allem ist es oft auch eine Frage der Psychologie wie und wann man einen Menschen fotografiert, auf ihn zugeht oder den falschen Moment meidet. Manchmal hat man keine Wahl und muss spontan und intuitiv reagieren, ohne dass man viel Zeit zum Überlegen hat. Und manchmal fotografiere ich eine Situation bevor man auf mich aufmerksam wird und muss mich dann mit der Reaktion auseinandersetzen.“ [3]

Eine Sonderstellung im Schaffen Zownirs hat sicherlich New York, wohin er 1980 zog, und wo seine eigentliche Karriere begann. Die Stadt war noch nicht so gentrifiziert und durchgehend überteuert wie sie es jetzt ist. Kreative konnten noch – wie im damaligen Berlin – für verhältnismäßig wenig Geld Wohn- und Arbeitsraum finden und sich ihrer Arbeit als Künstler, Schriftsteller, Musiker oder Fotograf hingeben. Es sind die damals entstandenen Aufnahmen vom Treiben an den sogenannten „Sex Piers“, dem verlassenen und baufälligen Hafengebiet zwischen dem Westside Highway und dem Hudson River, das damals ein beliebter Treffpunkt der Schwulenszene war, die heute zu den bekanntesten Bildern Zownirs zählen. Obwohl selber nicht schwul begannen die Männer Zownir wegen seiner regelmäßigen Anwesenheit bei den Piers zu akzeptieren und ließen sich von ihm fotografieren, nicht selten beim Geschlechtsakt. Generell interessierte sich Zownir in diesen Jahren für die lebhafte Subkultur der Schwulen- und Transsexuellenszene. Noch waren Aids unbekannt und sexuelle Auschweifungen nicht lebensbedrohlich.

In New York entstanden – wie gesagt – einige von Zownirs bekanntesten Aufnahmen, wie der militärisch salutierende Mann in weißer Marineuniform mit heruntergelassenen Hosen und Unterhosen an der Hafenkante, im Hintergrund die Skyline der Stadt oder der dürre nackte Jüngling auf dem Dach einer Luxuslimousine in der Pose des gekreuzigten Jesus. Berühmt auch die androgyne Person in Strapsen, Stiefeln, kurzer ärmelloser Weste, mit Tattoos auf den Armen, die – wohl am Times Square – im Gespräch mit einem Cab Driver ist, der an Robert De Niro im Film „Taxi Driver“ erinnert und das den Umschlag von Zownirs Buch „NYC RIP“[4] ziert, zu dem die Sängerin Lydia Lunch eine Einführung verfasste, eine Homage an ein vergangenes New York, dem man heute genauso verträumt nachhängt wie dem Berlin der 1990er Jahre.

Radikaler, manchmal auch brutaler sind die Aufnahmen Zownirs aus der Ukraine und Russlands. Hierher kam er als Reisender. Nie hatte er die Absichten, sich längerfristig niederzulassen. Von Anfang an ging es ihm in diesen Ländern ausschließlich um Fotos, um eine Dokumentation, um das Erleben einer anderen – vielleicht darwinistischeren – Gesellschaftsstruktur.

Zwischen 2012 und 2014 bereiste Zownir mehrfach gemeinsam mit der Autorin und Übersetzerin Kateryna Mishchenko und teilweise gefördert durch das Robert Bosch Foundation’s Border Crossers Program die Ukraine. Sie besuchten Odessa, Kiew, Poltava, Mariupol und andere Städte und erarbeiteten so zusammen ein Buch [5], das zu den bemerkenswertesten Publikationen über das Land in deutscher Sprach gehört. In Bild und Text taucht der Leser ein in die Lebenswelten von Obdachlosen und HIV-Positiven, von Angehörigen der Roma und politischen Aktivisten, er erfährt vom Alltag vieler Ukrainer in den verschiedenen Regionen und erlebt ein Land, in dem die Transformation nach dem Ende des Kommunismus noch längst nicht abgeschlossen ist, das im Gegenteil völlig zerrissen ist und einer unwissen Zukunft entgegensieht.

Auch im Russland Boris Jelzins knapp zwanzig Jahre vor seinem Ukraineabenteuer hatte er eine Gesellschaft im Ausnahmezustand erlebt und fotografiert. Über die Arbeit in Moskau erzählte er mir im bereits zitierten Interview: “ … Moskau 1995 war alles in allem der hoffnungsloseste und gefährlichste Ort. Die Gefahr ging weniger von den Menschen aus, die ich fotografierte, dafür waren sie meist zu lethargisch, krank oder schwach. Aber es gab so viele unterschiedliche Polizei- und Milizeinheiten mit undurchsichtigen Kompetenzen und ich musste mich immer wieder vor betrunkenen, Kalaschnikow schwingenden Uniformierten ausweisen und rechtfertigen, wobei keiner Englisch verstand und ich kein Russisch sprach. Irgendwann ist das Ganze zu einem irrwitzigen Katz- und Mausspiel oder Spießroutenlauf degeneriert. Der Grund dafür war, dass ich immer die gleichen Plätze aufsuchte und irgendwann dem besoffensten Bullen auffiel, dass ich nicht das schicke Vorzeige-Moskau fotografierte.“[6] Aus dieser Zeit stammt eines der Bilder, das mich – wann immer ich es sehe – zutiefst berührt und traurig macht. Es zeigt einen bärtigen Mann ohne Beine, nicht einmal nennenswerte Stumpen sind noch vorhanden, der auf einem selbstgebastelten Rollbrett sitzt und sich mittels Holzklötze auf dem Asphalt abstößt um sich fortbewegen zu können. Eine ehemalige Freundin, die ursprünglich aus Nikolajew in der Ukraine stammte, hatte mir vor Jahren von einem Schulkameraden erzählt, der, kaum 18 Jahre alt geworden, für die UDSSR in den Afghanistankrieg ziehen musste und ebenso verkrüppelt wie der Mann auf dem Foto aus diesem zurückkehrte. Wann immer ich das Bild von Miron Zownir sehe, muss ich an diesen jungen Schulkollegen dieser Freundin denken, dessen Leben endete bevor es richtig begann.

So wie mir wird es sicherlich vielen Betrachtern der Arbeiten von Miron Zownir gehen. Jeder wird ein Fotos in diesem gewachsenen Werk entdecken, das berührt und das sich nicht mehr aus dem visuellen Gedächtnis löschen lässt. Miron Zownir trägt den Titel „Poet of Radical Photography“ nicht zu unrecht. Er ist ein Titan seines Fachs, auch wenn seine Bilder oftmals schwer verdaulich sind.

Jens Pepper

[1] Berlin Noir, PogoBooks, Berlin 2017, ISBN 978-3-942547-58-1

[2] PHOTONEWS 6/2017, Seite 25

[3] aus einem Interview mit Miron Zownir, das der Autor im Oktober 2016 geführt hat (siehe https://www.obstundmuse.com/miron-zownir/)

[4] NYC RIP, Pogo Books, Berlin 2015, ISBN 978-3-942547-51-2

[5] Ukrainian Night, zusammen mit der Autorin Kateryna Mishchenko, Spector Books, Leipzig, 2015, ISBN 978-3-95905-012-8 (Englisch und Ukrainisch)

[6] aus einem Interview mit Miron Zownir, das der Autor im Oktober 2016 geführt hat (siehe https://www.obstundmuse.com/miron-zownir/)

Dieser Essay erschien in englischer Übersetzung im ‚doc! photo magazine‘ vol. Q10 #45, September 2018, S.140-143