Fotos oben: Mein heimliches Auge – verschiedene Ausgaben in der Redaktion
Jens Pepper: Du bist gerade im Urlaub auf La Palma und hast dich trotzdem bereit erklärt mir ein Interview zu geben. Das klingt als seist du ein Workaholic.
Claudia Gehrke: Ja, ein Workaholic bin ich – aus Lust. Die Arbeit beim Büchermachen ist aber auch ein Vergnügen.
Jens Pepper: Also ist es ein Arbeitsurlaub.
Claudia Gehrke: Richtig. Auf La Palma ist das immer so, da wir auch Bücher über die Kanaren machen. Ich arbeite also im Moment, es ist Nacht, ich sitze hier im warmen Wind in meiner Arbeitsecke an der Lavawand des alten Häuschens, das ist zugleich große Lust! Das alte Haus gehört übrigens einem Autor, der sich freut, wenn wir es nutzen.
Jens Pepper: In Berlin ist es jetzt ein Uhr früh. Wie spät ist es bei dir?
Claudia Gehrke: 12 Uhr, Mitternacht, eine Stunde früher.
Jens Pepper: Das heißt, du arbeitest gerade an einem Buch über die Kanaren?
Claudia Gehrke: Ja, unter anderem zusammen mit der Autorin Ines Dietrich an der erweiterten Neuausgabe ihres aus dem Herzen geschriebenen und nach Monaten aufgeteilten Buchs „Geheimnisse der Insel La Palma. Ein Reiseführer durch 12 Monate“. Aber zugleich beginne ich die Arbeit an der Nummer 30 von „Mein heimliches Auge“: im Wind, ohne Luxus, mit Krähen, die in der Palme nebenan wohnen, Geckos, die mich nachts beobachten und Insekten fangen und einem freien Blick über wilde Landschaft zum Meer. Nachts sitze ich unter der Milchstraße, der Himmel erst bunt, dann grün dann schwarz.
Das ist ein Arbeiten, das mich den Stress vergessen lässt, den es leider auch gibt – die Mühen des Bücherverkaufens, die ewigen ökonomischen Probleme, Prozesse. Aber ich habe wieder eine neue sehr nette Mitarbeiterin, Sunita Sukhana, die mir hilft.
Jens Pepper: Das ist ja richtig poetisch beschrieben. Von Palmen und Geckos kann ich im Moment nur träumen, obwohl Berlin gerade auch sehr schön ist. Ich möchte mich mit dir in diesem Gespräch vor allem über Fotografie unterhalten, da es in unserem Fotoblog ObstundMuse veröffentlicht werden soll. Gibt es auf La Palma Fotografen, die du verlegst?
Claudia Gehrke: Ja, es gibt Fotografen, klar, die machen aber eher Landschaftsfotografie. Ich hatte aber auch schon einige erotische Bilder von hier in den „Augen“. Alexis W. wäre zu nennen, er war schon sehr oft in den erotischen Jahrbüchern, er ist von der Nachbarinsel, El Hierro.
Kennengelernt hatte ich ihn vor vielen Jahren in Madrid. Als ich durchs Viertel Chueca spazierte sprangen mich an den Häuserwänden hängende beleuchtete Fotografien an, Nackte, die auf einem Sofa sitzen. Wir fanden heraus, von wem diese Fotos waren und lernten ihn in seiner Eagle-Bar, einem schwulen Sexclub, kennen, inzwischen habe ich ihn auch in seinem Heimatdorf auf El Hierro besucht. Seit vielen Jahren macht er einmal im Jahr diese Ausstellung in den Gassen von Chueca, La ventana indescreta – das sind aufregende Bilder zu unterschiedlichen, erotischen Themen: Liebespaare aller Geschlechterkombinationen auf Sofas war diese erste Austellung. Alexis macht auch aufregende erotische Porträts in den Landschaften El Hierros – Landschaften, die herb und einsam sind.
Jens Pepper: Wieviel Prozent deines Programms kreisen eigentlich um erotische Themen. Und wieviel davon ist Fotografie?
Claudia Gehrke: Oh, Mathematik: vielleicht ein Drittel ist im weiteren Sinne erotisch – da geht’s ja immer auch um das Leben als solches mit seinen Ambivalenzen und Abgründen und nicht allein um Sex. Und Fotografie: in den erotischen Jahrbüchern gibt es viel Fotografie und ich freue mich jedes Mal aufs Neue an Neuentdeckungen und dass es inmitten der Bilderflut schrecklicher glatter Körper auch berührende, erregende, aufregende, tiefgründige Fotos gibt. Jedes Mal denke ich, ich finde nichts mehr, was mich anregt, und jedes Mal bei der Vorauswahl finde ich doch wieder tolle Arbeiten! Und dann verlege ich Fotobücher, aber nicht so viele; ein bis zwei im Jahr. Es gibt Fotografen und Fotografinnen mit vielen Büchern im Programm, wie Anja Müller und Thomas Karsten, und andere mit einzelnen Büchern wie im nächsten Jahr ein, wie ich finde, sehr schönes Foto-Buch von D. Twardowski zum Thema des berühmten Gemäldes von Courbet „Ursprung der Welt“– Fotos von den 80ern bis heute. Wenn ich könnte würde ich mehr machen. Aber ich vertreibe zusätzlich auch einzelne Bücher, die mir gefallen, wie „vis-à-vis“ von Chin-Chin Wu, einer chinesische Fotografin, die 50 weibliche Geschlechter aus aller Welt fotografiert hat, Bücher mit historischen erotischen Fotografien oder demnächst den selbstverlegten Pepper.
Jens Pepper: Das hat mich natürlich gefreut, das du mich mit den „Snapshot Beauties“ im nächsten Katalog zeigen magst, so wie ich mich auch über die bisherigen Abbildungen im „Auge“ gefreut habe. Was gefällt dir eigentlich an meinen Fotos?
Claudia Gehrke: Sie sind so angenehm unkitschig. Die Frauen haben so was wie einen Ernst, der, wie soll ich sagen, anrührt, anregt. Ein Hauch von Melancholie umgibt sie. Das ist ja immer auch der Blick des Fotografen, der in Menschen einen bestimmten Ausdruck erzeugt, und natürlich erfreue ich mich auch einfach an der Erotik der weiblichen Körper.
Jens Pepper: Welche Fotografen und Fotografinnen außerhalb deines Verlagsprogramms schätzt du besonders? Also im erotischen Segment?
Claudia Gehrke: Für diese Frage wäre es besser, ich wäre in Tübingen und könnte mal schnell in meine Fotobuchsammlung schauen. Die Klassiker: Nan Goldin, Mapplethorpe, Man Ray, auch Irina Ionesco, und die vielen fröhlichen erotischen Fotos aus der Anfangszeit der Fotografie – ich mag’s lieber „warm“ als „cool“.
Jens Pepper: Du sammelst also auch Fotobücher?
Claudia Gehrke: Ja, ich habe viele geschenkt bekommen und viele früher auf Messen getauscht. Gekauft habe ich natürlich auch. In letzter Zeit bin ich allerdings etwas zurückhaltender in meiner Sammelleidenschaft: Platzprobleme.
Jens Pepper: Du hast deinen Verlag seit Ende der 1970er Jahre in Tübingen, kommst aber ursprünglich aus Berlin. War es nicht ungewöhnlich und vielleicht sogar ein Wagnis, dein Programm dort und nicht in Berlin zu gründen? Bei Tübingen denke ich vor allem an Hochgeistiges an der Universität und an Hölderlin und nicht zuallererst an Libido und Eros. Das ist natürlich ein klischeebeladener Schnellschuss.
Claudia Gehrke: Als Verlegerin kann ich von überall aus arbeiten. Der Verlag entstand ja aus einem „Salon“ in den 70ern, vor ewigen Zeiten, den ich in meiner WG mitten in Tübingen veranstaltete – und wo heiß diskutiert und sich ebenso heiß manchmal mit Lust beschäftigt wurde. Und dort bin ich geblieben. Ich weiß nicht genau, warum; wohl wegen der Landschaft, der privaten Umgebung, und des offenen Blicks nicht nur in die eine Stadt, sondern in viele. Die Autoren des Verlags kommen ja von überall her, nicht nur aus Berlin, obwohl immer mehr nach Berlin gezogen sind. Seit langem lebe ich nicht mal mehr mitten in Tübingen, sondern in einem Stadtteil, der ein Dorf ist. Gerade dieser scheinbare Widerspruch zwischen Umgebung und Inhalt lässt mich vielleicht eine gewisse Naivität, oder besser, einen offenen Blick behalten, und ist anregend. Als Verlegerin kann ich, wie gesagt, von überall aus arbeiten. Für Künstler und Autoren ist eine Stadt wie Berlin notwendiger als Anregung. Ich reise aber oft, und bin also regelmäßig auch in Berlin zu Gast! Jetzt im Onlinezeitalter kann ich noch leichter von überall aus arbeiten, wie von dieser Insel am Ende Europas aus.
Jens Pepper: Eines deiner bekanntesten Verlagsprodukte ist das Jahrbuch der Erotik „Mein heimliches Auge“, das in diesem Jahr zum dreißigsten Mal erscheint. Du gibst auch „Mein lesbisches Auge“ und „Mein schwules Auge“ heraus. In allen drei Jahrbüchern sammelst du Texte, Fotos und Kunstwerke von Laien und Profis und gibst so einen Überblick über den Zustand der offiziellen wie auch inoffiziellen sexuellen Befindlichkeit der Gesellschaft, vor allem in Deutschland, aber auch andernorts, wie du ja schon mit der Erwähnung des spanischen Fotografen angedeutet hast. Was bedeutet diese Sammlung für dich?
Claudia Gehrke: Sie ist ein Herzstück des Verlags. Es ist spannend, rückwirkend zu sehen, welche Aspekte rund um Sex, Lust und Liebe im „Auge“ thematisiert wurden, die dann Jahre später erst zur Medienwelle wurden. Auch privat: Erotik, Liebe, Sex oder auch nur der Kitzel sinnlicher Momente bleiben immer wichtig, egal wie alt man ist. Es ist interessant zu sehen, wie die unterschiedlichen Generationen Erotik bebildern und beschreiben. Manches bleibt ewig gleich.
Jens Pepper: Ist die Gegenwart pornografischer, also in dem Sinne, dass Akt und Pornografie gesellschaftlich nicht mehr so ein Tabu sind, gerade auch unter jüngeren Menschen?
Claudia Gehrke: Ja und nein. Einerseits haben heute wirklich alle mal was Pornografisches gesehen – online etc. – müssen also nicht mehr heimlich die obersten Regalbretter der Väter absuchen. Andererseits sind viele Junge dennoch sehr romantisch, lernen sich im „real Life“ kennen und nicht, wie viele Ältere denken, nur noch online, auch sehnen sie sich nach stabiler Langzeitliebe. Viele leben das auch. Es ist ja nicht so, dass früher Sex nicht abgebildet wurde, ich denke an Studentenbewegung, Kommunenzeit, jede mit jedem, freier Sex als Beweis von Freiheit etc. Porno war zwar noch in der Schublade, Sex aber nicht. Die Anzahl der Bilder hat sich heute vervielfacht.
Jens Pepper: Wie viele Fotos wurden im vergangenen Jahr für die verschiedenen „Auge“-Ausgaben eingereicht und wie viele davon hast du ausgewählt?
Claudia Gehrke: Da ja seit CD-Zeiten und erst recht heute zu Online-Zeiten Fotografen nicht mehr wie zu Beginn der „Augen“ wenige Abzüge zur Wahl schicken, sondern Web-Links oft zu Hunderten von Bildern, kann ich Zahlen nur schätzen. Das Durchklicken der online eingereichten Bilder ist anstrengend, aber mittendrin gibt es dann doch immer wieder Fotos, die mich anspringen.
Jens Pepper: Wie viele Fotografierende reichen für die jeweiligen „Augen“ etwas ein? Mehr als 500 Personen? Mehr als 1000? Ich nehme an, dass die Anzahl der Vorschlagenden beim „schwulen“ und beim „lesbischen Auge“ kleiner sind.
Claudia Gehrke: Ja, die Anzahl der Angebote für die schwul/lesbischen Bände ist kleiner. Allerdings gibt es beim „schwulen Auge“ sehr viel mehr Fotografierende als beim „lesbischen“. Rinaldo Hopf, der Herausgeber des „schwulen Auges“, findet immer wieder neue in aller Welt. Die Zahl 500 erscheint mir schon viel, mehr sind es sicher nicht, die für die je aktuellen Ausgaben aller erotischen Jahrbücher etwas einreichen.
Viele eingereichte Fotografien speichere ich allerdings nicht in den Vorauswahlordnern, so dass ich nicht wirklich exakt sagen kann, wie viele Fotos wir wirklich angeboten bekommen.
Mir sind im Verlauf der Jahre einige Fotografen und Fotografinnen ans Herz gewachsen, die dann auch öfters im „Auge“ vorkommen.
Jens Pepper: Dazu dann Text- und Kunsteinreichungen, da gibt es eine Menge zu sichten und zu lesen. Sichtet ihr im Team oder geht alles über deinen Schreibtisch?
Claudia Gehrke: Ja, wir sichten im kleinen Team mit unterschiedlichen Augen-Altern. 23 Jahre ist diesmal die jüngste Mitauswählende.
Jens Pepper: Was für Fotos langweilen dich, welche haben keine Chance, ins „Auge“ aufgenommen zu werden?
Claudia Gehrke: Also diese typischen Mädchen-Fotos. Natürlich sind es keine Mädchen sondern junge Frauen, denen man aber ansieht, dass sie Null beteiligt sind, dass sie ihre Lippen und Gesichter einrichten, so wie sie sich vorstellen, dass Männer es sehen wollen, die keinen Ausdruck im Körper haben und sich nur hinrenken. Wie soll ich das beschreiben? Die Fotos haben keine Wärme. Die gibt’s massenhaft. Da sind die Körper und Gesichter austauschbar. Einzelne davon baue ich aber auch ein, denn in der Mischung des Ganzen dokumentieren sie ja etwas.
Ich habe aber auch mal in einer Diskussion gehört – nach einem meiner Bildvorträge, in dem ich unterschiedliche Arten, Erotik im Bild darzustellen, verglichen habe – dass Bilder, die ich selbst besonders mochte, von anderen als zu intim empfunden wurden. Zu sehr Einblick in eine Person gäben, sodass man daher eher Scham empfände, hinzusehen, während bei diesen coolen Kunstkörpern und -posen man einfach hinsehen, sich an den entsprechenden Körperpartien anregen lassen kann, ohne das Schamgefühl zu haben, Einblick in etwas Intimes zu nehmen.
Jens Pepper: Und wie verhält es sich mit Männerfotos?
Claudia Gehrke: Der schwule Markt bietet viel Vergleichbares. Und Männerfotos jenseits des schwulen Blicks gibt es im Vergleich noch immer extrem wenige. Aber auch da ist es so, dass viele Fotos unanimierend glatt sind. Ich freue mich immer auch über Zusendungen von erotischen Bildern von Männern, und auch von Paaren oder Gruppen in erotischer oder sexueller Interaktion – die meisten Bilder, die kommen, bilden einzelne ab.
Jens Pepper: Fotografieren Frauen lieber Frauen oder Männer?
Claudia Gehrke: Viele Fotografinnen die ich kenne, fotografieren Frauen wie Männer mit gleicher Intensität, Herlinde Koelbl zum Beispiel, oder die lesbische Fotografin Anja Müller. Viele Fotografinnen fotografieren Frauen, ganz unabhängig von ihrer sexuellen Präferenz.
Männer dagegen sagen oft, „ne, ich bin ja nicht schwul“, wenn es darum geht, ob sie Männer fotografieren möchten.
Jens Pepper: Schade eigentlich. Ich habe ja auch noch keine Männerakte fotografiert. Vielleicht sollte ich das mal machen. Eventuell auch mit einer Einwegkamera, als Pendant zu den „Snapshot Beauties“.
Claudia Gehrke: Ja!
Jens Pepper: Ich werde ernsthaft darüber nachdenken. Sag, welches Fotobuch würdest du gerne machen? Gibt es da einen geheimen Traum? Oder hast du eine Wunschliste?
Claudia Gehrke: Oh, Hilfe, das sind Fragen, über die ich länger nachdenken müsste: vielleicht Fotos von Menschen beim Sex, die nicht diese glatten Pornobilder reproduzieren, aber auch nicht „Deutschland privat“, sondern die Vergnügen und Wärme zeigen. So wie die frühen Fotos aus der Anfangszeit der Fotografie. Wir machen ja im Herbst zwei Fotobücher in diese Richtung, wenn ich beide zusammenwürfele und die Ausstrahlung der Bilder mische, vielleicht wär’s genau das. Aber so habe ich zwei schöne Bücher mit Menschen in zärtlicher Interaktion, beide Bücher mag ich persönlich sehr, von Thomas Karsten, „Skin to Skin“, mit lesbischen und heterosexuellen Paaren – und von Anja Müller, „Paare zwei“, mit lesbischen, schwulen und hetero-Paaren. Aber ich könnte mir noch viel mehr Bücher vorstellen – doch die Arbeitskraft und die ökonomischen Möglichkeiten schöpfen wir schon bis zur Grenze aus, mehr geht nicht.
Jens Pepper: Was würdest du von einem erotischen Fotoband halten über ungleiche Paare, also in Bezug auf das Alter. Zum Beispiel ältere Frau und jüngerer Mann, aber natürlich auch älterer Mann und jüngere Frau. Gesellschaftlich ist das ja nach wie vor ein Thema, das nicht ehrlich und offen diskutiert wird. Vorurteile und heimliche Ablehnung sind hier eher an der Tagesordnung. Vielleicht ist da ja Neid im Spiel, wenn die Ablehnung zu harsch geäußert wird.
Claudia Gehrke: Klingt spannend. Die Frage ist leider nur, wie bei vielen guten Themen: gibt es genug potentielle Interessenten, die mehr als schnelle Blicke ins Internet zu einem Thema wünschen, also einen schön gestalteten Fotoband kaufen würden?
Jens Pepper: Was sagst du als Verlegerin: Wie risikoreich wäre es für ein solches Buch zum Ladenhüter zu verkommen?
Claudia Gehrke: Mit Vorhersagen ist es schwer, da habe ich mich schon oft vertan, in beide Richtungen. Ein Buch, von dem ich bessere Verkäufe erhoffte, wurde zum Ladenhüter und umgekehrt. Wichtig ist, nicht an der Hoffnung auf große Auflagen zu kleben, sondern sich über Reaktionen zu freuen, über kleine Fankreise zu den unterschiedlichen Themen!
Jens Pepper: Wie hoch sind die Auflagen deiner Fotobücher in der Regel?
Claudia Gehrke: Früher waren sie höher. Die ersten Bücher von Thomas Karsten wurden in einer Auflage von 3000 Stück plus Nachauflagen verkauft. Jetzt machen wir limitierte Auflagen von 1000 Stück.
Jens Pepper: Hat sich der Markt also verändert?
Claudia Gehrke: Es gibt einfach viel mehr Bücher. Da Perlen zu finden wird schwerer, es verteilt sich anders. Außerdem hat das Internet auch viel verändert – gerade in Sachen Bild – es ist ja alles online. Wer nur Bilder ansehen möchte, dem reicht das. Was wir machen, ist Fotografen und Fotografinnen zu verlegen, und den Betrachtern eine Auswahl aus dem Vielen zu bieten, eine Zusammenstellung in einer schönen Form. Und immer wieder gibt es natürlich Bilder und Fundstücke in den heimlichen Augen oder Fotobüchern, die nicht online sind.
Jens Pepper: Ich habe den Eindruck, dass es sehr viele neue Kleinstverlage gibt, die, genauso wie Self Publisher, oft großartige Bücher in sehr kleinen Auflagen herausbringen. Ich denke da z. B. an Calin Kruse mit „die nacht publishing“. Es gibt inzwischen auch sehr viele unabhängige Fotobuchmessen. Ich stelle mir vor, dass diese Entwicklung, wie auch das von dir genannte Internet, eine ganz schöne Herausforderung darstellt. Was sind deine Strategien, um diesem Wandel im Fotobuchmarkt entgegenzutreten? Kleinere Auflagen zum einen; was noch?
Claudia Gehrke: Sich aufs Kleine einstellen. Es ist ja auch schön, dass es viel mehr kleine Verlage mit Kleinstproduktionen gibt. Bezogen auf Produktionskosten ist es heute aber schwerer als vor den Zeiten des Selfpublishing. Dem muss ich mich stellen und sagen, ok, wir machen kleine limitierte Auflagen, schön gestaltete Bücher, die Erotik aus unterschiedlichen Blickwinkeln vermitteln.
Büchermachen ist etwas sehr Sinnliches; wie sich eine Seite an die andere fügt, wie das Ganze Ausstrahlung gewinnt, das ist ja ein langer und schöner Prozess.
Jens Pepper: Du sagtest, alles sei online. Aber im Buch wirken Fotos doch ganz anders als am leuchtenden Bildschirm. Das erkennen Fotofans. Und Fotobücher werden doch auch inzwischen zu Sammlerobjekten, denen sogar eigene Auktionen gewidmet werden. Das stimmt mich eigentlich hoffnungsvoll.
Claudia Gehrke: Ja, das Medium Buch behält seine eigene Sinnlichkeit. Aber diese Buchsammler sind andere Liebhaber, sie gehören einer kleineren Gruppe an. Früher, in den Voronlinezeitaltern, haben auch noch die reinen Bildliebhaber, die einfach schöne, qualitätsvolle oder auch erotisch anregende Einzelbilder haben wollten, Bücher kaufen müssen.
Jens Pepper: Wie könnte man diese Menschen wieder als Kunden gewinnen?
Claudia Gehrke: Darüber müsste ich nachdenken! Bilder, die es nur gedruckt gibt… Vielleicht lassen sich manche Kunden wiedergewinnen, wenn sie merken, dass sie in der Flut der Bilder aus dem Internet ertrinken, wenn sie merken, dass Verlage eine tolle Auswahl aus dieser Flut herausholen und dann ein Buch so gestalten, dass die Bilder anders, spannender zur Geltung kommen. Wir müssen nur Wege finden, dass unsere Bücher in die Hand genommen werden. Ich verstehe ja die Buchhändler auch, die – nicht nur bei Fotobüchern, sondern generell – ebenso in der Auswahl an Vielem ertrinken, die Selfpublisher kommen ja auch noch dazu – und das führt insgesamt dazu, wie mir scheint, dass die Buchhändler immer mehr aussieben.
Jens Pepper: Arbeitest du bei der Auswahl der Bilder und bei der Gestaltung der Fotobücher eng mit den Fotografen zusammen, also entwickelt ihr die Bücher gemeinsam?
Claudia Gehrke: Ja.
Jens Pepper: Kommt ihr da immer schnell auf einen Nenner oder gibt es da auch mal echte Kontroversen?
Claudia Gehrke: Manchmal gibt es Differenzen, aber alle lassen sich lösen. Manchmal gefallen mir andere Bilder als den Fotografen und Fotografinnen.
Jens Pepper: Wer hat bei der Bildauswahl das letzte Wort?
Claudia Gehrke: Die Fotografen vielleicht etwas mehr als ich. Aber ich setze meine Lieblingsbilder dennoch meistens durch, auch bei den Covern. Da habe ich mich allerdings manchmal sogar schon nachträglich etwas über mich geärgert. Denn oft habe ich eine spontane erste Idee, das Covermotiv betreffend. In den Diskussionen darüber geht diese Spontanität manchmal verloren, und es fallen mir keine klaren Argumente ein, sodass es dann andere Cover wurden. Aber noch Jahre später denke ich bei manchen Büchern – nicht allein Fotobüchern – wäre ich doch bei der spontanen ersten Coveridee geblieben! Obwohl man nie beweisen könnte, ob ein anderes Cover mehr Leser gefunden hätte. Aber Cover sind wichtig für den ersten Blick ins Buch.
Jens Pepper: Das heißt, du hast ein gutes visuelles Gespür. Bist du vor allem ein visueller Mensch?
Claudia Gehrke: Ja, ziemlich, und das betrifft nicht nur Erotisches, sondern auch Landschaften. Ich schaue sehr gerne. Gerüche schätze ich allerdings auch.
Jens Pepper: War das bei dir schon immer so, oder hast du dir die visuellen Fähigkeiten erarbeiten müssen?
Claudia Gehrke: Learning by doing. Ich habe viel beim Büchermachen gelernt, aber schon immer, seit ich mich erinnern kann, gerne Bilder gesehen. Ganz klassisch habe ich schon im Bücherschrank meiner Eltern gestöbert, und neben Bildbänden auch ein paar nette alte Striptease-sw-Filme (die wohl aus den 30ern stammten) entdeckt und sie heimlich zusammen mit meiner Schwester angesehen – mein Vater hatte ein Normal 8/ Super8-Filmvorführgerät
Das erotische Jahrbuch wurde anfangs von Günter H. Seidel gelayouted. Der hatte einen tollen Blick auf Bilder. Er war selbst Maler und hatte in den 50ern oder 60ern die Bücher der Eremitenpresse gestaltet.
Ich kam mit den Einsendungen für das „Auge“, damals noch auf Papier, aber auch da schon mengenmäßig viel, zu ihm, und wir suchten gemeinsam die Bilder aus. Seine Kommentare habe ich noch im Ohr: „Die kann keine Hände zeichnen“. Sie waren immer treffend, bei schlecht gemalten Bildern ebenso wie bei Fotografien! Natürlich hatte er einen „männlichen“ Blick, ich einen vielleicht „weiblichen“. Aber ich versuche immer noch, obwohl er jetzt schon ca. 10 Jahre tot ist, bei der Auswahl auch seinen Blick mitzudenken, als „männlichen“. Ansonsten suchen ja eher Frauen aus, ich und jüngere. Aber das „Auge“ braucht schon auch einen männlichen Blick bei der Auswahl. Auch beim Layouten habe ich seine Ideen noch im Kopf und frage mich manchmal an kniffligen Stellen: wie hätte er kombiniert. Die überquellende Fülle im Jahrbuch ist ja Prinzip. Der Layouter sagte oft – weil die Fotografen immer am liebsten ihre Bilder ganzseitig möchten: „Das Bild wirkt auch kleiner gut und wenn du alle ganzseitig machst, ist es nicht mehr dieses Buch!“ Er war ein guter Lehrer, und Lehrer und Lehrerinnen, bzw. Menschen von denen sich lernen lässt, sind wichtig.
Jens Pepper: Und jetzt bist du die Lehrerin für deine jüngeren Verlagsmitarbeiter?
Claudia Gehrke: Das ließe sich so sehen, aber umgekehrt lerne ich von ihnen einen immer wieder „frischen“ Blick. Und den brauch ich auch.
Jens Pepper: Was für einen Blick auf Erotik und Erotikfotografie hat die jetzt junge Generation? Was fällt dir da auf?
Claudia Gehrke: Ich frag mal Sunita, gerade 24. Sie kann gut formulieren, vielleicht können wir ein Zitat von ihr zu einem bestimmten Foto hier einbauen. Wir haben für „Konkursbuch – Der erotische Blick“, ich glaube es ist die Nr. 49, einmal aus verschiedenen Generationen auf „scharfe“ Bilder geblickt, also die frecheren von Thomas Karsten, der ja auch Frauen fotografiert, die Lust haben, sich beim Sex oder Masturbieren fotografieren zu lassen, mit deutlich sichtbaren Geschlechtern. Es waren doch meist dieselben Bilder, die allen gefielen. Darüber wurde dann auch geschrieben. Also, um diese Frage genauer zu beantworten, müsste ich länger nachdenken. Bei manchen Bildern gab es schon Unterschiede zwischen mir und den „jungen“ Augen. Mir fällt aber auf, dass sie auch Spaß an nicht konventionellen, nicht so glatten Sexfotos haben, und dass viele der Jungen die Karstenfotos sehr mögen, während sie die Bilder von Anja zwar auch gut finden, aber nicht zuerst nennen. Die Fotos von Anja kommen bei der mittleren Generation besonders gut an. Karsten fotografiert ja viele junge Frauen, die Lust daran haben, sich wirklich frech und frei zu zeigen. Manche meiner Praktikantinnen haben sich dann auch selbst fotografieren lassen. Ich sollte das nächste Mal die Kommentare bei der „Auge“-Auswahl notieren.
Apropos weiblicher Blick auf Fotos: mich können manche Bilder durchaus auch erregen; Frauen wie Männerfotos. Und was auffallend ist: die jungen Praktikantinnen richten bei mir oft das „schwule Auge“ ein. Damit lernen sie viel – Gestaltung, Layoutprogramm, Photoshop – und es ist auffallend, wie gut ihnen manche Bilder der sehr deutlichen Bilder daraus gefallen.
Jens Pepper: Na, dann freue ich mich jetzt schon mal auf die kommende Herbstsaison und die dann bei dir neu erscheinenden „Auge“-Ausgaben und anderen Bücher. Ich danke dir für das schöne Gespräch.
Das Gespräch wurde im Sommer 2015 via Facebook geführt.
Die gebürtige Berlinerin Claudia Gehrke lebt seit ihrer Studienzeiten in Tübingen. Dort hat sie 1978 den konkursbuch verlag gegründet, der vor allem durch das erotisches Programm und die Herausgabe des erotischen Jahrbuchs „Mein heimliches Auge“ Berühmtheit erlangte. Andere Themenschwerpunkte des Verlags sind u.a. Bücher über die Kanaren, Japan sowie Thriller, Literatur und Lyrik.
Auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse ist der konkursbuchverlag in Halle 4.1. / D77 zu finden.