Jens Pepper: Du bist im vorvergangenen Jahr von Warschau nach Berlin gezogen und kennst nun die Fotoszenen beider Städte recht gut, die von Warschau vielleicht etwas besser, weil du dort länger gelebt hast. Nach deiner bisherigen Erfahrung: Was sind die größten Unterschiede, die dir im Vergleich beider Szenen auffallen?

georgia Krawiec: Für die Beantwortung dieser Frage müsste ich eigentlich sehr weit ausholen, aber ich versuch´s mal in wenigen Sätzen:

Ein großer Unterschied zwischen beiden Städten ist aus fotografischer, wie aus allgemein künstlerischer Sicht, die Stellung Warschaus als Nukleus des gesamten Landes. Ähnlich wie in Frankreich, wo bekanntlich alle Wege nach Paris führen, ist Warschau der zentrale Platz der Fotografie. Jetzt könnten beispielsweise die Posener Fotokünstler sich ein wenig vernachlässigt fühlen, da es ja dort wirklich gute Fotografie gibt, doch in Warschau dreht sich vieles um die Warschauer, man sollte daher vor Ort sein, um zu wirken. Und Du bist ja DA! Also einen großen Vorteil hast Du schon.

Berlin dagegen hat sich erst in den letzten Jahren neben Hamburg und Köln als wichtigstes Zentrum für Fotografie etablieren können und ich habe den Eindruck, dass hier der Wohnort- oder Herkunftsaspekt keine so überragende Rolle für die Wahrnehmung in der Szene spielt.

Ein weiterer Unterschied ist die starke Ausdifferenziertheit der fotografischen Szene: In Warschau unterscheidet man zwischen Künstlern, die sich als Medium der Fotografie bedienen und Fotografen, die Fotokunst betreiben. Hier dagegen ist diese klare Trennung für mich so nicht erkennbar. Es gibt offensichtlich unendlich viele Nuancen, Schattierungen und Möglichkeiten zwischen den unterschiedlichsten Genres, die völlig neue Symbiosen mit der Kunst eingehen können. Naturwissenschaftler, die über Fotografie mit Malern Projekte machen, Musiker, die zur Fotografie komponieren und Soziologen, die sich auf eine Fotoreise machen, um dem Flüchtlingsdrama zwischen der EU und Afrika am Zaun in Melilla auf die Spur zu kommen. Alles ist möglich und, so habe ich es bisher gesehen, wird auch wirklich ernst genommen.

Gerade die Flüchtlingskrise und die mit ihr verbundene Migration ist für Künstler in Berlin eine permanente Auseinandersetzung, von der man in Warschau aus bekannten Gründen noch sehr weit entfernt ist.

Einhergehend damit ist die Internationalität der Fotoszene in Berlin zu nennen, die zwar auch in Warschau ein wenig Einzug hält, aber lange nicht mit derselben Intensität. Persönlich kann ich sagen, dass es aufgrund der Offenheit der Szene und der Gesellschaft hier leichter zu sein scheint, künstlerisch wahrgenommen zu werden, Kontakte zu knüpfen. Die meisten Fotokünstler, die ich in meinen zwei Jahren kennen lernte, denken in Netzwerken und vielleicht ist dies eine der Erklärungen für das Willkommensein. Umgekehrt haben gerade Polen hier offenbar einen guten Stand, was sich daran zeigt, dass Artur Żmijewski die 7. Berlin Biennale kuratierte oder Adam Szymczyk, der künstlerischer Leiter der Dokumenta XIV. im nächsten Jahr ist… Das sind doch Zeichen!

Jens Pepper: Jetzt, wo du in ein anderes Land gezogen bist, fällt es dir leicht, die alten Kontakte in Warschau zu halten? Gilt jemand, der aus der Fotoszene weg- und woanders hingeht, als Botschafter der heimischen Szene oder eher als Fahnenflüchtiger?

georgia Krawiec: Den Begriff Fahnenflucht finde ich grotesk und da das Fahnentragen bei mir unschöne Erinnerungen weckt, waren es eher die Fahnen, die vor mir geflohen sind. Und zwar sowohl die weiß-rote als auch die schwarz-rot-goldene [lacht].

Aber zu Deiner Frage: Manche meiner Fotokollegen und -freunde waren entsetzt und traurig, dass ich meinen Wirkungsschwerpunkt verlegt habe. „Hast du dir das wirklich gut überlegt?“ – hat eine Kuratorin gefragt. Die meisten dagegen freuten sich mit mir über diesen Schritt, verabredeten sich schon im Voraus zum Monat der Fotografie, Berlin-Biennale oder Gallery Weekend. Berlin ist „za miedzą”, also hauchnah, seine Bedeutung für die polnische Kunst- und Fotoszene ist nicht zu unterschätzen und in Berlin sichtbar: polnische Galerien wie UP-Gallery, Żak-Branicka, polnische Künstler wie Marek Poźniak, Joanna Rajkowska oder Pola Dwurnik, und – natürlich auf den Straßen – diverse polnische Themen.

Polen sind unglaublich flexibel, mobil und spontan – dies hast Du bestimmt schon in Warschau selbst erfahren? – und sie kleben keinesfalls so sehr an ihrer Scholle, wie manch satter Westeuropäer. Wenn es mir gelingt, als Botschafterin, wie Du es ausdrückst, zwischen den beiden Kulturen zu wirken, würde ich mich freuen. Projekte wie SilesiaTopia, Nowa Ameryka oder The Promised City sind Beispiele von solchen funktionierenden Brücken, die auch Früchte tragen und außerhalb des Insititutionalisierten weiter wirken. Die meisten Brücken aber entwickeln sich doch einfach beim Teetrinken. Und dies ist das Wunderbare!

Jens Pepper: Die Warschauer Galerieszene ist recht überschaubar. Wie zeitgenössische Kunst und Fotografie von der heimischen Bevölkerung aufgenommen werden, kann ich allerdings noch nicht beurteilen, da ich noch zu neu in der Stadt bin. Auch scheint mir der Kunst- und Fotomarkt noch nicht sehr stark ausgeprägt zu sein. Wie siehst du denn die Galerienszene in Warschau, und welchen Stellenwert hat die Fotografie in ihr?

georgia Krawiec: Durch die Berliner rosa Fotobrille gesehen, wirken ja viele Städte oder gar Hauptstädte eher blass. Man sollte diese Brille abnehmen und sich vergegenwärtigen, dass die polnische Gesellschaft eine Transformationsgesellschaft ist und der Umbruch immer noch andauert. Deshalb gibt es auch in der Fotogalerieszene eine große Fluktuation: professionelle Galerien wie die YOURS Gallery, die Luksfera, Refleksy machten während meiner Kadenz zu, auch die Mała Galeria ZPAF-CSW, die fast 30 Jahre lang die Entwicklung in der Fotografie prägte. Andere Galerien wiederum wurden neu eröffnet oder zogen immer wieder um. Die Aktivisten der Galeria Czułość wollten nicht aufgeben, wurden gezwungen vier Mal umzuziehen, haben aber durchgehalten. Es gibt auch Beispiele von privaten Galerien, die sich dennoch über Jahrzehnte mit anspruchsvollem Programm halten, wie etwa die Galeria Asymetria.

Es existiert zwar ein Fotomarkt (wie das Auktionshaus Fotografia Kolekcjonerska) und einige wenige ernstzunehmende Fotosammler, wie Cezary Pieczyński oder Joanna i Krzysztof Madelski, die Du bestimmt schon kennst [lacht], jedoch reichen die bei ihnen erzielten Umsätze kaum für ein so teures Pflaster, wie es Warschau ist. Die Stadt gibt einen sehr geringen Anteil der Gelder für Kultur aus. Es gibt beispielsweise keine Unterstützung für Projekträume. Mein Eindruck ist, dass die dennoch vorhandene turbulente Entwicklung dadurch begünstigt wird, dass die Menschen oftmals alles auf eine Karte setzen und sehr viel mehr wagen als im Westen. Es machen Institutionen auf, die ein Wagnis sind, an gewagten Orten, so dass man mit Idealismus ins kalte Wasser springt. Wenn es mit der Fotografie in einer realen Galerie nicht funktioniert, dann verwandelt man sie in eine virtuelle oder in einen Fotografiebuchverlag.

Du fragst, nach dem Stellenwert der Fotografie in Warschau. Meiner Ansicht nach hat sie innerhalb der Kunst im Allgemeinen keinen geringeren Stellenwert als in Berlin. Nur die Maßstäbe sind hier anders. Ich meine hier wieder die rosa Brille. Und zwar die quantitativen und preislichen Maßstäbe. Bei dem kunstinteressierten Publikum aber, denke ich, ist die Fotografie als Kunst auf jeden Fall angekommen.

Und Du hast Recht, die Fotoszene ist überschaubar, man kennt sich, die Wege sind kurz und die Vernissagen voll, auch gut für Dich… Also konkreter gesagt: Sei gnädig mit deiner neuen Wahlheimat, denn die Fotografie in Warschau kommt langsam, aber sie kommt!

Jens Pepper: In dem Warschauer Mode- und Zeitgeistmagazin KMag habe ich heute ein Interview mit Aneta Grzeszykowska gelesen, deren Fotos mir bereits im vergangenen Jahr in der Raster Galerie aufgefallen waren. Sie hat auch an einer der letzten Berlin Biennalen teilgenommen. Kennst du ihre Werke?

georgia Krawiec: Es gibt, denke ich, keine wirklich Kunstinteressierten in Polen, die Aneta Grzeszykowska nicht kennen würden. Sie gehört zusammen mit beispielsweise Wilhelm Sasnal oder Zbigniew Libera zu den wichtigsten Künstlern Polens. Seit ca. 2007, seit dem sie die schwarzen Videofilme gedreht hat, ist sie in der Kunstszene unübersehbar und auch unglaublich produktiv. Die Videos sind betörend, hineinziehend, sie sind magisch! Wenn ich sie sehe, kann ich nicht aufhören. Ich schaue sie mehrfach an. Solltest Du sie noch nicht gesehen haben, dann unbedingt nachholen! Denn das, was sie aus ihrem Körper herausholt ist nicht nur minutiöse Präzisionsarbeit, sondern auch schönste Choreographie. Schaue Dir bitte mal die Interpretation einer Uhr an, in der sie auch mit der Multiplikation des eigenen Körpers spielt. Es ist wirklich genial, die Uhr funktioniert wirklich! In der Ausstellung bei Raster, die Du wahrscheinlich gesehen hast, macht sie neuerdings etwas mit ihrem Körper, das den Schönheitsbegriff aus den schwarzen Videos ins Bestialische überführt. Die Körperteile sind hervorragend erstellt und inszeniert, möglicherweise ist jedoch für sensible Betrachter so viel Schweinehaut in Nahaufnahme mit menschlichen Zügen etwas gewöhnungsbedürftig.

Ich mag ihre Arbeiten sehr, ich mag das Düstere, Morbide und gleichzeitig Schöne an ihnen. Egal, ob man die graphischen Videoarbeiten wie Kopfschmerz oder die Uhr nimmt, die gefaketen Portraits im Stil Thomas Ruffs oder die absurden, unlogischen, Positiv-Negativ-Selbstportraits aus dem Negative Book, sie sind alle zu Ende gedacht. Das ist hohe Kunst. Ich schätze außerdem auch an Grzeszykowskas Arbeitsstil, dass sie großen Wert auf die Form legt. Das ist heutzutage nicht selbstverständlich.

So macht mir der Kunstkonsum wirklich Freude. Wie fandst Du die Körperexponate in der Galeria Raster?

Jens Pepper: Absolut großartig. Ich bin rein in die Galerie und war begeistert. Das ist für mich wirklich spannende Fotografie. Diese Serie ist in gewisser Weise auch surreal; da steckte so ein Bellmerscher Impuls drin. Ich habe mir auch gleich das von Raster publizierte „Love Book“ von Grzeszykowska gekauft, in dem ja all die Arbeiten, die du gerade so schön beschrieben hast, enthalten sind.

Welche Fotografinnen und Fotografen aus Warschau empfiehlst du noch?

georgia Krawiec: Vor allem bei Grzyszykowska würde ich doch lieber von einer Fotokünstlerin reden, da sie sich doch von der reinen Abbildung entfernt und selbst stark eingreift, auch mit Objekten arbeitet, die keinen Bezug zu Fotografie haben. Aber um auf Deine Frage zurückzukommen, ein Großer seiner Zunft, dessen Arbeit ich sehr schätze, ist Wojciech Prażmowski, der dokumentarfotografisch arbeitet, jedoch auch künstlerische Ansätze verfolgt, bis hin zu Fotoobjekten. Er verwendet auch fremde Fotografien, meistens mit stark historischen Bezügen und bildet aus ihnen, man könnte fast schon sagen, Fotoskulpturen.

Eine jüngere Vertreterin der Warschauer Fotoszene ist Magda Hueckel, eine aus Gdansk stammende Fotografin, die letztens ein unglaublich opulentes Album der Theaterfotografie herausgab, ein Novum auf der polnischen Fotografiebühne. Sie ist mir ganz nah, wir haben, glaube ich (sie hoffentlich auch [lacht]), eine Seelenverwandtschaft. Ohne es von einander gewusst zu haben, arbeiteten wir gleichzeitig an zwei Selbstportraitzyklen über den psychischen und physischen Vergang. Genau dort wo mein Zyklus endet, fängt ihrer an. Ich empfehle Dir beispielsweise ihr Projekt Anima, das mit dem Unterbewussten und Unerklärlichen spielt. Die Fotografien sind unheimlich aber gleichzeitig wunderschön.

Eine echte Fotografiepäpstin ist auf jeden Fall Zofia Kulik. Bemerkenswert ist hier zu erwähnen, vielleicht kein Zufall, dass es formale Überschneidungen mit den Videos von Grzeszykowska gibt, was aber beiden keinen Abbruch tut. Kulik spielt z.B. mit dem Körper des Partners Kwiek und entwirft monumentale, penibel inszenierte Fotocollagen. Auch mit politischen Andeutungen.

Ich schätze auch die Fotografien von Adam Pańczuk, Jacek Poremba und Paweł Żak. Ich kann sie leider hier nicht alle aufzählen, aber vielleicht noch ein paar Namen aus der klassischen Dokumentarfotografie: die Fotografen Przemysław Pokrycki, Zorka Projekt (zwei Fotografinnen die beide Monika heißen) oder der ganz klassische Reportagefotograf Chris Niedenthal sind Warschauer, die sich nachhaltig mit sozialen Themen befassen. Empfehlen kann ich Dir auch noch unbedingt Maciej Pisuk und dessen eindringliche Sozialreportage einer in Warschau-Praga lebenden Familie, die wirklich unter die Haut geht.

Ich habe natürlich ein Tausend und noch einen wichtigen und unübersehbaren Fotografen nicht erwähnt. Ojejku! Hoffentlich liest er oder sie dieses jetzt nicht! Den oder die besprechen wir ein anderes Mal, ok?

Jens Pepper: Die meisten Protagonisten polnischer Fotografie kennt man in Deutschland nicht oder nur in sehr spezialisierten Kunstkreisen. Zofia Kulik z. B. ist einigen sicherlich ein Begriff. Natalia LL vielleicht auch. Die meisten Fotografennamen tauchen allerdings nur selten auf. Auch in Ausstellungen und Publikationen. Das mag sich in den vergangenen Jahren ein wenig geändert haben, in Berlin kann man das beobachten, beispielsweise durch die Aktivitäten und Messebeteiligungen der von dir schon erwähnten Galerie Żak Branicka. Und durch die Markt- und Ausstellungspräsenz einiger weniger Kunststars, die aber eher aus den Bereichen Malerei, Installation, Objekt und Performance kommen, ist der eine oder andere Deutsche vielleicht neugierig geworden auf das, was im Nachbarland ganz generell in den Künsten geschieht und historisch geschah. Doch so richtig umfassend ist das Wissen über Polens Foto- und Kunstszene nach wie vor nicht. Dabei gibt es so viel zu entdecken. Woran liegt das? Sind die Deutschen da schwerfällig?

Vor 15 Jahren hätte ich argumentiert, dass der Durchschnittsdeutsche, besser Durchschnittswestdeutsche – denn für die ehem. DDR-Bürger kann ich nicht sprechen – mit einer ausgeprägten Westorientierung aufgewachsen ist und den Osten so gar nicht auf dem Bildschirm hatte. Ich nehme mich da persönlich nicht von aus. Aber jetzt ist eine ganze Nachwendegeneration herangewachsen, und das deutsche Interesse an Polen und an dem, was dort passiert und entsteht, ist immer noch gering. Man sollte glauben, dass die jungen Menschen gerne mal schauen wollen, was im Nachbarland geschieht. Woran liegt das? Liegt es an der schwierigen polnischen Sprache? Liegt es daran, dass sich auch polnische Künstler – jetzt spreche ich wieder ausschließlich von bildenden Künstlern und Fotografen – lieber in Richtung Westen orientieren, da nur dort wirklich Geld verdient werden kann? Und dass durch diese Westfixierung der Deutsche und Westeuropäer gar kein Interesse an Polen entwickeln braucht, weil die Polen sowieso zu ihnen hinstreben? Das war jetzt eine Menge, was ich da angerissen habe, wirkt vielleicht auch ein wenig konfus, aber ich hoffe, du erkennt den Kern dessen, was ich sagen und worauf ich hinaus will.

georgia Krawiec: Die Frage und sogar die Antwort ist richtig [lacht].

Aber jetzt ernsthaft: ich denke, dass ich für diesen Diskurs die falsche Ansprechpartnerin bin. Es wäre unglaubwürdig meinerseits eine Diagnose zu stellen, deswegen ist es gut, dass Du von den zehn Fragen mindestens acht bereits selbst beantwortet hast. Ich habe zwar Eindrücke aber die sind vielleicht doch durch die zeitlich begrenzte Erfahrung zu oberflächlich.

Jens Pepper: Dann wenigstens Deinen Eindruck.

georgia Krawiec: Bei meinem Eindruck würde ich jedoch die Briten, die Franzosen und die Italiener aus diesem Kunst- und Marktspiel ausschließen. So stehen die Polen gar nicht so schlecht da. Die Präsenz holländischer oder portugiesischer Künstler scheint mir hier nicht überragend zu sein. Gleichwohl können die Kunst- und Fotoszene Belgiens oder der Schweiz der Tschechischen die Stirn bieten, aber da steht, hoffe ich, die polnische Fotoszene resolut und selbstbewusst mit einigen Vertretern, Veranstaltern und Events da.

Doch ich glaube, diesen Eindruck nehme ich sofort wieder zurück! Das gegenseitige Aufwiegen der einzelnen Nationen und deren Künstler bringt wahrlich keinen Mehrwert. Dies ist der falsche Weg. Gerade hier in Berlin herrscht eine solche Kunst-Willkommens-Kultur, dass ich bei diesem nationalen Abgleich ungern richten würde.

Man sollte als Mediator, Kunst- und/oder Kulturschaffender einen vorwärts gerichteten Weg gehen, immer das Licht am Ende des Tunnels sehen und nicht den Tunnel selbst. Du machst es doch schon, Du bist der Beweis, dass ein Durchschnittsdeutscher (entschuldige!) auch hier Aufklärung sucht. Wird ihm diese nicht zuteil, so macht er sich selbst auf den Weg.

Ich missbillige in keinster Weise „verordnete” Veranstaltungen. „Seitenwechsel“, der zur 25-jährigen Städtepartnerschaft Berlin-Warschau realisiert wurde, oder „Luneta“, das Breslau-Berlin-Projekt zur Kulturhauptstadt Europas 2016, bringen die Menschen zusammen, manchmal auch in Kontakt. Sie sind zwar zu allererst konsumorientiert, machen aber auch neugierig, öffnen Horizonte. Dies tun auch kleinere Initiativen wie der „Buchbund“ oder dein Blog.

Jens Pepper: Gibt es in Warschau einen Markt für Fotografie? Kannst du einschätzen, wie Galerien oder auch Fotografen aus ihren Studios heraus verkaufen?

georgia Krawiec: Natürlich gibt es einen Markt für Fotografie in Polen. Allerdings ist die Analyse davon mehr als heikel! In Polen gibt es vieles, das in den Bereich der Intimsphäre gehört, worüber man jedoch in Deutschland schon beim ersten Kennenlernen plaudern kann: mein Haus, meine Oldtimersammlung, mein Arbeitslosengeld, mein Urologe und so etwas. Polnische Ohren sind da empfindlich und die Künstler selbst noch einen Tick empfindsamer. Meiner Ansicht nach wird Erfolg oder Scheitern zwar prinzipiell nicht so sehr am Finanziellen fest gemacht, da aber Warschau nun mal ein echt teures Pflaster ist, kommt dem Verkauf ein existenzieller Wert zu. Über diesen spricht man dann aber nicht! Nicht mal nach zehn Jahren Bekanntschaft.

Bei Galerien kann ich es nicht beurteilen, jedoch habe ich in Warschau nie ein Galeristengespräch geführt, in dem man mir freimütig Zahlen preisgab. Dies war und ist wohl eher ein Betriebsgeheimnis, wenigstens den Künstlern gegenüber. Hier dagegen scheint man mit der Transparenz in Sachen Verkauf weniger Probleme zu haben – ein echter, kultureller Unterschied. Interessant wäre die Frage, wie sich solche Differenzen in der freien Wirtschaft ausgestalten, im Bereich der Kunst zumindest ist diese Offenheit eher befremdlich.

Vielleicht kann Dir hier Katarzyna Sagatowska, die seit etlichen Jahren erfolgreich das Auktionshaus Fotografia Kolekcjonerska leitet, Auskunft geben? Aber ich bitte Dich, falle als typischer Deutscher nicht gleich mit der Tür ins Auktionshaus! [lacht]

Jens Pepper: Hast du denn polnische Käufer oder gar Sammler für deine eigenen Arbeiten? Ich weiß, das ist jetzt genau die Frage, die du gerade als typisch deutsch beschrieben hast, aber ich bin eben schrecklich neugierig.

georgia Krawiec: Also ehrlich gesagt, auch wenn ich es lange hin und her rechne, und Buchhaltung ist leider nicht meine Stärke, komme ich nicht darauf, welcher Teil in mir überwiegt: Inwiefern bin ich eine germanisierte Polin, eine polnische Deutsche oder der fünften Kolonne beider Fraktionen entlaufen? Und auch, wenn ich es den Osten rauf und den Westen runter rechne, die Rechnung geht einfach nicht auf. So oder so: Die Antwort auf deine Frage lautet: Siehe vorherige Antwort.

Jens Pepper: Aber es gibt Leute, die deine Kunst kaufen?

georgia Krawiec: Du bist aber wirklich sehr hartnäckig deutsch! Natürlich gibt es solche Leute oder auch Institutionen. Nur ganz, ganz zu Anfang, Anfang der 90er Jahre, war ich so idealistisch und dachte, ich muss die Kunst niemanden zeigen, sie soll für sich existieren und aus sich selbst heraus Kunst sein. Und Verkaufen wäre damals undenkbar gewesen, ein Verrat an der Kunst. Inzwischen hat sich die Realität in mein Kunstverständnis eingeschlichen und ich fände es schlimm, nur für die Schublade zu werkeln… Ich kann nicht sagen, ich könnte von den Verkäufen leben, dafür betreibe ich wahrscheinlich zu wenig Akquise, mache zu kleine Auflagen oder nur Unikate und habe bisher auch keinen Agenten. In Deutschland bin ich noch zu neu, aber hier – so hoffe ich! – gibt es andere Möglichkeiten, da die Gesellschaft keinen Nachholbedarf an Konsumgütern zu haben scheint und sich für Anderweitiges interessiert, sich engagiert und auch in Kunst zu investieren scheint. Ich will Dir jetzt keine Aufzählung der Gönner präsentieren, aber auf der Homepage der Galerie ep-contemporary findest Du ein Paar Namen. Zufrieden?

Jens Pepper: In Warschau hat man relativ schnell einen Überblick über die Fotografieszene, einfach deshalb, weil sie im Vergleich zu Berlin sehr viel überschaubarer ist. Gibt es deiner Erfahrung nach einen Zusammenhalt zwischen den einzelnen Gruppierungen? Also ich meine, zieht man an einem Strang, um den Fotostandort Warschau nach vorne zu bringen, bekannter zu machen? Oder leben die verschiedenen Szenen nebeneinander her und wollen miteinander nichts zu tun haben?

georgia Krawiec: Blau: jak jest? mocno? cianko? brzydko? ciasno?

Schwarz: Tja, dies ist eine Frage, die nicht nur die Warschauer Fotogemeinde oder -gemeinden betrifft, sondern eine ganz allgemein gültige. Ich bin mir da nicht sicher, ob dies eine Warschauer oder polnische Spezialität ist oder ein Phänomen der Zeit, das eines unaufgearbeiteten Ostblockkomplexes.

Es ist etwas Antikollektivistisches und gleichzeitig Egozentrisches, und das verursacht, dass ein polnischer Fotostrick eher in einzelne Fäden gespalten wird, an denen die Beteiligten dann versuchen das Glück auf ihre Seite zu ziehen. Aber dies bessert sich auch. Beispielsweise wurden über ein paar Jahre hinweg zwei konkurrierende Fotofestivals in Warschau veranstaltet. Heute sind es immer noch zwei, aber sie konkurrieren nicht mehr miteinander. Warschau ist ständig im Umbruch, die Leute sind jung, die Fotoszenen umso mehr, es passiert viel und die Richtung ist nicht vorhersehbar. Wie gerade in der Politik. Darum kann man auch nicht prophezeien, ob und wie und wann und welche Szenen miteinander fusionieren werden. Man muss mit uns Geduld haben.

Ich bin wirklich beeindruckt gewesen, als ich in Boston auf einem Art Walk Tag gewesen war, an dem 200 Galerien gleichzeitig Eröffnungen feierten. Ein wirklich starkes Event. Als ich nach Warschau zurückkam, habe ich mit mehreren Galeristen gesprochen, ob man etwa einmal im Jahr einen solchen Tag einrichten könnte. Es war das Jahr 2007 und die Zeit war noch nicht reif. Mittlerweile gibt es beispielsweise das Warsaw Gallery Weekend, an dem die meisten Galerien teilnehmen und zu dem Kunstgäste aus ganz Europa kommen, auch aus Berlin! Natürlich ist es nicht ein reines Fotofest, verständlicherweise, da, wie Du es auch angemerkt hast, die Anzahl reiner Fotogalerien überschaubar ist. Aber ich bin da ganz hoffnungsvoll, der Strang wird immer dichter, immer enger [lacht].

Jens Pepper: Gibt es Unterschiede in der Rezeption Deiner eigenen Fotokunst zwischen Warschau und Berlin?

georgia Krawiec: Ja, der erste Unterschied bist Du selbst. Bisher habe ich mich nämlich mit keinem Journalisten, Kunstkritiker oder Fototheoretiker öffentlich über die marktwirtschaftliche Seite meiner Arbeit unterhalten. Zur Berliner Rezeption kann ich noch nicht so viel sagen, jedenfalls besteht der zweite Unterschied in der Verankerung meiner Fotokunst in Berlin und in Warschau. In Warschau nimmt man es als FOTOkunst wahr, in Berlin eher als fotoKUNST. Ich würde es jedoch nicht bewerten, beide Rezeptionswege haben ihre Vor- und Nachteile. Momentan aber, in der Berliner Luft, schwimme ich gerne (oder fliege ich!) in der Freiheit des Begriffes Kunst und fühle mich wirklich wohl dabei. Meine Kunstsynapsen sind los!

Jens Pepper: Du hattest eingangs gesagt, dass Warschau als Standort für Kreativität, Ausstellung und Vertrieb die Nummer Eins in der polnischen Fotografie sei. Aber die Szene ist doch recht übersichtlich, das kann ich auch als Neuling in der Stadt feststellen, und du hast es ja auch schon bestätigt. Sind Städte wie Krakau und Łódź, die eigene Fotofestivals haben, Lodz darüber hinaus auch eine berühmte Filmhochschule, wirklich nur zweite Garde im Land? So zentralistisch kommt mir die Fotoszene in Polen ehrlich gesagt gar nicht vor. Da die Szene in Warschau so klein ist, fände ich einen Blick von oben herab auf die Szenen in Krakau, Danzig, Posen, Łódź etc. auch etwas fehl am Platz.

georgia Krawiec: Na ja, vielleicht habe ich in meinen Warschauer Jahren doch den Bazillus egozentricus geschluckt und sehe alles auch aus der Warschauer Sicht… Aber zur meiner Verteidigung muss ich sagen, dass zwar die Festivals einen Einfluss auf die Bedeutung des Standortes haben, zugleich aber nicht unbedingt die Visitenkarte der örtlichen Fotoszene darstellen. Beispielsweise waren auf dem diesjährigem Fotofestival in Łódź die besten Ausstellungen international besetzt oder zumindest von Fotokünstlern, die nicht aus Łódź kamen, vielleicht abgesehen von einer kleinen aber hervorragenden Ausstellung des Filmhochschulprofessors Grzegorz Przyborek. Bezeichnend ist auch, dass in einer eindrucksvoll abgedunkelten, kuratierten Ausstellung in der Galeria Imaginarium fotografische Positionen zweier Fotografiestädte, Łódź und Posen, miteinander konfrontiert wurden.

Ich bin auch vom hohen Niveau der Fotografielehre an der Universität der Künste in Posen überzeugt. Die dortigen Professoren Florkowski, Wołyński oder Baranowski können sich mit heute angesehenen Absolventen schmücken, wie z.B. Paweł Bownik, Tomasz Dobiszewski oder die Kuratorin und Publizistin Marianna Michałowska. Allerdings würde ich den Standort Posen nicht in Konkurrenz mit dem Warschaus sehen, hingegen die Fotografie an der Posener Kunstakademie mit der Fotografie an der Warschauer Kunstakademie auf jeden Fall.

Und Du zweifelst zurecht über die zweite Garde. Das Selbstbewusstsein der einzelnen Fotografiestandorte entfaltet sich mit hohem Potenzial, vielleicht ist auch die europäische Politik unter dem Begriff Europa der Regionen an dieser Entwicklung mit beteiligt (DANKE! Europa!), indem dezentrale Projekte besonders gefördert werden. Meine Hoffnung ist, dass sich dies trotz der gegenwärtigen politischen Entwicklung fortsetzt, damit ein Pluralismus in der Kunst mit verschiedenen Sehschulen und künstlerischen Ansätzen in der Fotografie die polnische Fotografie insgesamt stärkt. Ich hoffe, wir sind auf einem guten Weg, irgendwann mal auch eine Becher- oder eine HGB-Schule vorzeigen zu können. Hier bin ich ein polnischer, unverbesserlicher Optimist.

Jens Pepper: Im gegenwärtigen politischen Klima Polens ist die staatliche Sicht auf Kunst und Kultur extrem rückwärtsgewandt. Ich habe mit Galeristen und Museumsmitarbeitern gesprochen, die davon berichten, dass staatliche Institutionen seit ein paar Monaten die Förderung zeitgenössischer Kunst, und damit auch Fotografie, stark zurückschrauben, ja teilweise sogar vollkommen aufgeben. Museen in Warschau und Posen beispielsweise sind Ankäufsetats, die sowieso schon spärlich waren, gestrichen worden. Zeitgleich wird die Heldenverehrung – Stichworte Katyń, Warschauer Aufstand, Smoleńsk, Papst Johannes Paul II. – von der PiS propagiert. Wer Patriotisches machen will, als Filmemacher, als Bildhauer, als Schriftsteller, dem stehen jetzt offenbar die Türen staatlicher Institutionen offen. Was wird das deiner Meinung nach für Auswirkungen auf die polnische Kunst- und Fotoszene haben?

georgia Krawiec: Dies scheint einem Erdogan-Szenario nahezukommen, und hoffentlich wird Kaczyński und dessen PiS solch radikalen Schritte nicht nacheifern. Glücklicherweise ist Polen EU-Mitglied und aus dieser Mitgliedschaft ergeben sich auch Verbindlichkeiten, von denen eine auf eine vierjährige Kadenz gewählte Regierung nicht einfach zurücktreten kann.

Ich sehe natürlich diese drastischen Auswirkungen der Helden- und Patriotenpolitik in der polnichen Kultur, sowohl auf finanzieller wie auch auf personeller Ebene. So leidet etwa manche Institution darunter, dass der nicht regierungskonforme Leiter oder Kurator in den unbezahlten Urlaub geschickt wird oder keine Chance auf Vertragsverlängerung bekommt, sobald dieser ausläuft. Der Druck ist da und allenthalben spürbar.

Ich wünschte mir daher auch, dass polnische Künstler und Fotografen, die Künstlerinnen und Fotografinnen natürlich mit eingeschlossen, engagierte Kunst machen. Gerade jetzt sollten wir auf die Kunst- und Fotobarrikaden steigen, uns auflehnen und die schweigende Mehrheit wecken. Dem ist noch nicht so (vielleicht außer im Berliner Klub der polnischen Versager [lacht]). Aber ernsthaft: ich glaube nicht einmal, dass dies aufgrund der gegenwärtigen Einschüchterung passiert. Die letzten zwanzig Wohlstandsjahre beruhigten die Gemüter, auch die der Kreativen. Abgesehen von einigen wenigen, wie Łódź Kaliska, Zbigniew Libera oder Artur Żmijewski gehörten engagierte Künstler und Fotografen nicht unbedingt zu den angesagten.

Stattdessen gibt es eine gegensätzliche Entwicklung, nämlich die der antiengagierten Kunst, deren Grundsätze beispielsweise in der 2007 entstandenen Gruppe Penerstwo forciert werden. Auch eine Rezeption von sogenanntem national-patriotischem Realismus, vor allem durch eine Ausstellung im Warschauer Museum der Moderenen Kunst [Muzeum Sztuki Nowoczesnej], ließ sich beobachten. Und dies sogar noch, das muss ich zugeben, ganz ohne politischen Druck, schon 2012, also bevor die konservative PiS das Regierungssteuer übernahm. Ich hatte damals bereits ein wirklich ungutes Gefühl, dass man hier mit rechtsnationalen Symbolen und fundamentalistisch-religiösen Themen dem radikal rechtsnational-patriotischem Spektrum eine neue, und zwar museale Plattform eröffnet und es somit kulturell etabliert. Das war neu.

Jens Pepper: Kannst du noch etwas mehr auf die Auswirkungen auf die Kunst- und Fotoszene eingehen?

georgia Krawiec: Ja, eine Bedrohung, von der ich schon gesprochen habe, ist die ökonomische Zensur. Diese scheint ja so unverdächtig. Die Regierung ist dabei, sich eine Kulturlandschaft nach Maß zu stricken. Traurig aber wahr! Die noch größere Gefahr geht aber meiner Meinung nach von dem eher unterschwelligen Phänomen der Selbstzensur aus. Wenn Galerien und Museen gezwungen werden konform zu arbeiten, wenn Kritiker und Publizisten abhängig sind von staatlichen Mitteln für ihre Veröffentlichungen, dann werden die von ihnen zu berücksichtigten Inhalte von vorne herein auch konform gewählt. Eigentlich möchte ich keinem Kreativen unterstellen, dass er oder sie sich planmäßig politisch prostituiert, um weiterhin in den Genuss einer wie auch immer gearteten Förderung zu gelangen, allerdings wird es – zumindest im Unterbewusstsein des einen oder anderen Fotokünstlers – eine Rolle spielen, sich entsprechend anzubiedern. Leider! Wenn Du erlaubst nenne ich keine aktuellen Beispiele.

Und noch eine Anmerkung zur engagierten Kunst: Es mag sein, dass in funktionierenden Demokratien diese als langweilig empfunden wird, weil sie sich als gesellschaftlicher Konsens kein Gehör verschaffen muss. Es mag sein, dass jungen Polen der Zweite Weltkrieg aktueller ist, als die kommunistischen Jahre danach. Dass ihnen nicht bewusst ist, wie es schmeckt, täglich die gleichgeschaltete Presse, unfreie Justiz und politisch angepasste Kunst konsumieren zu müssen. Und all die anderen? Ich habe damals selbst antikommunistische Karikaturen gezeichnet, die auf Flugblätter kamen und mich und meine Familie in Gefahr brachten. Haben wir etwa dies alles schon vergessen?

Also, wo bleibt heute die Rebellion?! Lasst uns endlich was tun – mit Pinsel oder Silbernitrat und vor allem mit freiem Gedankengut (letzteres ist apropos ein sehr schönes deutsches Wort). Schließlich ist es gerade die Kunst, die die Freiheit am dringendsten nötig hat und diese verteidigen muss. Wollen wir ihr Schicksal wirklich ein paar rückwärtsgewandten Pseudofrommen überlassen, die, genauso wie sie schon mal den Mond gestohlen haben1, es nun auf unsere Freiheit abgesehen haben? Nein! Auf diesen Barrikaden bin ich auf alle Fälle dabei!

1 Anspielung auf einen Film von 1962, in dem die Kaczyńskizwillinge die Hauptrollen spielen.

Georgia Krawiec

Das Interview wurde im Juli/August 2016 via Email geführt.

Georgia Krawiec ist eine polnische Fotografin und Dozentin mit Wohnsitz in Berlin.

www.georgiakrawiec.net