Jens Pepper: Du wirst seit 2015 wahrscheinlich immer zuerst auf dein erfolgreiches Buch ANNA KONDA angesprochen, wenn du zu deinem Werk befragt wirst. Ich mache es jetzt nicht anders, denn es ist ein so schöner Einstieg in eine Konversation. Hat dich der Erfolg damals eigentlich überrascht?
Katarzyna Mazur: Ich hätte nie damit gerechnet, dass das Buch so erfolgreich wird, zumal ich nach meinem Abschluss nicht gleich geplant hatte, meine Arbeit zusammen mit einem Verlag als Buch herauszugeben. Das war alles sehr spontan. Als ich das fertige Buch dann in meinen Händen hielt, war das aber ein schönes Gefühl. Das Buch wurde auch gleich auf der Paris Photo nominiert und war sieben bis acht Monate später komplett ausverkauft. Calin [Kruse, der Verleger von dienacht publishing] hat da eine tolle Arbeit geleistet. Wenn ich zurückblicke, denke ich manchmal, dass dieser Erfolg für mich ein bisschen zu früh war. Gleichzeitig war es aber auch das Beste, was mir nach dem Abschluss passieren konnte. Dafür bin ich bin dankbar.
Jens Pepper: Wie hat sich der Bucherfolg ausgewirkt? Hast du Einladungen zu Festivals bekommen, hat es dir Ausstellungen gebracht und wurde in der Presse viel über dich berichtet?
Katarzyna Mazur: ANNA KONDA wurde zusammen mit anderen auf der Paris Photo nominierten Büchern im Rahmen einer Wanderausstellung gezeigt und zwar in Schweden, beim Landskrona Fotofestival, beim Łódź Fotofestiwal, beim Riga Photomonth und in Amsterdam. Es wurde auch beim analogueNOW-Fotofestival in Berlin gezeigt und eine weitere Präsentation plus artist talk folgten in Warschau in der Leica Gallery 6×7. Die Bilder aus der Serie wurden auch ein paar Mal ausgestellt, auch schon bevor das Buch fertig war: in Berlin, in Łódź und in fünf Großstädten Indiens. Und die Fotos wurden in der gedruckten Ausgabe des Stern veröffentlicht.
Es wurde auch in der Presse, vor allem online, viel darüber berichtet. Das Buch hat ein paar sehr schöne Rezensionen bekommen und es gab weitere kleine Auszeichnungen wie „one of the Best Photo Books of the Year“ in dem Onlinemagazin photo-eye sowie „one of the Most Beautiful Photo Books from the New East“ im Calvert Journal. Vor kurzem hat auch die polnische Kunstzeitschrift Contemporary Lynx mein Buch erwähnt. Viel gutes Feedback habe ich auch von Fotografen und Sammlern bekommen, die mein Buch kaufen wollten oder es bereits getan hatten. Über solche persönliche Nachrichten habe ich mich jedes Mal sehr gefreut.
Die Bilder aus der Serie wurden auch online viel gezeigt und ich habe ein paar Interviews gegeben, was an sich natürlich super war. Der Nachteil war, dass die Fotos weltweit, aber wirklich weltweit kopiert bzw. geklaut wurden und oft in einem Kontext gezeigt wurden, den ich als unangebracht empfand. So habe ich schnell alle Seiten der Online Medien, auch die brutalen, kennengelernt.
Jens Pepper: Wie bist die auf die Idee gekommen, Anna Konda und ihren Female Fight Club in Berlin Marzahn zu dokumentieren? War es das schräge Thema an sich, das dich reizte? Gab es ein Interesse an archaischen Handlungen? War es Sensationslust? Was hat dich veranlasst, hier als Fotografin einzusteigen?
Katarzyna Mazur: Das Thema Sport war schon früh in meinen Arbeiten präsent. Der Grund dafür liegt wahrscheinlich darin, dass Sport, Zeichnen, – später abgelöst von der Fotografie – , und Musik meine Jugendzeit geprägt haben. Ich hatte Tischtennis, später dann Tennis trainiert, aber irgendwann kaum mehr Zeit dafür. Es war für mich natürlich, dass ich mich mit dem Thema auseinandersetze und so habe ich unterschiedliche Sportarten fotografiert: Armwrestling, Boxen, Rugby, Fußball. Wobei ich den Fokus meistens auf die Frauen gelegt habe. Es hat mir auch immer Spaß gemacht, mich mit Themen wie Bewegung und Dynamik zu beschäftigen.
Im Fall des Female Fightclubs war es das, wie du sagst, schräge Thema, das mich reizte. Noch lange bevor ich den Club entdeckt hatte, sah ich irgendwo die Bilder der russischen Fotografin Maria Turchenkova, die einen Fight Club in Moskau – nur für Männer – dokumentiert hat. Die Bilder waren sehr stark, manche brutal und sie haben mich sehr beeindruckt. Ich muss zugeben, dass mich solche Themen reizen. Parallelwelten. Ich liebe es neue Welten zu entdecken. Dabei ist mir natürlich klar, dass ich genau so gut meinen Nachbarn aus dem Erdgeschoss fotografieren und seine Geschichte erzählen könnte.
Es kommt immer darauf an, wie du etwas erzählst. Und du musst ein wirkliches Interesse an einer Sache haben. Den Female Fightclub in Berlin hatte ich also irgendwann einmal entdeckt. Ich fand es ziemlich schräg und teilweise auch furchtbar, was ich da auf deren Webseite gesehen habe. Aber ich dachte mir, wenn ich so etwas noch nicht gesehen habe, dann gibt es auch andere, denen es genauso geht. Das war zu der Zeit, als ich ein Thema für meine Abschlussarbeit suchte und so habe ich mich für den FFC entschieden. Ich hatte das Gefühl, dass ich dort zu meinen Bildern kommen könnte, wenn es mir gelingt, das Thema richtig umzusetzen. Nach dem ersten Treffen mit Anna Konda wusste ich aber auch schon, dass ich dafür schnell meine Komfortzone verlassen muss, da das sonst nicht funktionieren würde. Diese Herausforderung und den Kampf mit mir selbst – denn manches, was ich dort sah, habe ich als verstörend empfunden – fand ich spannend. Und obwohl ich eigentlich keinen Sport als Thema für meine Abschlussarbeit haben wollte, habe ich mich dafür entschieden. Letztendlich ist es aber auch keine richtige Sportgeschichte geworden.
Jens Pepper: Wie haben die Frauen eigentlich reagiert, als du mit deinem Anliegen zu ihnen kamst?
Katarzyna Mazur: Zuerst habe ich Anna Konda angeschrieben und einen Termin ausgemacht. Sie ist in den Medien präsent, deswegen war das für sie auch keine Überraschung, dass jemand mit einer Kamera vorbeikommen wollte. Sie dachte aber am Anfang bzw. sie war es gewohnt, dass da jemand kommt, schnell ein paar Bilder macht für einen Artikel und fertig. Ich hingegen musste ihr klar machen, dass ich öfters und über längere Zeit kommen wollte. Außerdem war ja eine große Abschlussausstellung geplant und später auch ein Buch. Zum Glück hat alles geklappt und ich glaube, dass wir beide viel von unserer Zusammenarbeit profitiert haben. Ich hatte mein Projekt im Kasten und dank der Online-Veröffentlichungen hat der Female Fightclub noch mehr Aufmerksamkeit bekommen. Problematisch war es eher mit Kämpferinnen, die aus anderen Ländern nur für einen Kampf mit Anna Konda kamen. Die hatten keine Ahnung, wer ich bin und warum ich Fotos machen wollte. Ich musste also jedes Mal auf ihr Einverständnis hoffen, nachdem ich mich ihnen vorgestellt hatte. Bis auf einer Kämpferin, ausgerechnet aus Polen, haben aber alle sofort zugesagt und waren mir gegenüber auch sehr offen. Trotzdem war das alles für mich neu, also jemanden so intim zu fotografieren ohne dass ich diese Person kenne, ohne vorher irgendwelches Vertrauen aufbauen zu können. Das war aber mein Problem; ich musste einfach meine Grenzen austesten und selbst herausfinden, wie weit ich gehen konnte.
Jens Pepper: Hast du selbst mal als Kämpferin ausprobiert?
Katarzyna Mazur: Nein, obwohl mich eine Kämpferin fast gezwungen hatte. Ich stand immer mit meiner Kamera da, die mir als perfekte Ausrede diente, um nicht mitmachen zu müssen. Und abgesehen davon, dass die Kämpfe sehr kurz waren und ich mich nur aufs Fotografieren konzentrieren wollte, ist dieser Sportart eher nichts für mich. Mir reicht da Tennis völlig aus.
Jens Pepper: Du hast in Thorn deutsche Philologie studiert, bist dann aber nach Berlin gezogen, um an der Ostkreuzschule von 2011 bis 2014 Fotografie zu studieren. Was hat dich weggeführt vom ersten Berufswunsch und weshalb waren dann Berlin und Ostkreuz dein Ziel?
Katarzyna Mazur: Mein erster Berufswunsch war die Fotografie, der Weg, der dahin führte, war allerdings ein bisschen länger. Als ich noch in der Schule war, so zwei bis drei Jahre vor dem Abschluss, hatte ich gerne Sprachen gelernt. Ich hatte sogar kurz überlegt Germanistik oder Anglistik zu studieren. Aber die Leidenschaft für Fotografie war letztendlich größer. Also habe ich mich entschieden, in diese Richtung zu gehen. Damals gab es aber in Polen nicht viele Schulen bzw. Studiengänge, in denen man Fotografie, vor allem Reportage, studieren konnte. Und es war auch nicht leicht, einen Platz zu bekommen. Ich habe mir also nach dem Abitur ein Jahr frei genommen um mich vorzubereiten. Mein größter Wunsch war die Filmhochschule in Łódź. Die andere Schule, die mich interessierte, war die Akademie der Künste in Posen. In beiden Fällen wurde ich jedoch abgelehnt. In Posen war es ganz ganz knapp. Ich musste also entscheiden, was der nächste Schritt sein sollte. Meine Eltern, obwohl sie mich in meiner Entscheidung unterstützt hatten, haben damals gesagt, ich solle jetzt vielleicht doch etwas ‚Normales‘ studieren und Fotografie als Hobby betreiben. Und so kam ich zurück zur Germanistik. Meine Mutter ist übrigens Deutschlehrerin und ich hatte einen ganz guten Einblick in diesen Beruf. Aber mir war ganz klar, dass ich niemals Lehrerin werden würde. Trotzdem ging ich nach Thorn, wo ich sogar eine gewisse Leidenschaft für die deutsche Sprache entwickelte. Ich wollte das Beste aus der Situation machen und so viel lernen wie ich nur konnte. Ich lese auch gerne und ich glaube, dass ich die einzige in meinem Jahrgang war, die tatsächlich jedes Buch, das Pflichtlektüre war, gelesen hat. Mir hat es wirklich Spaß gemacht, Gedichte und Erzählungen aus dem 19. Jahrhundert zu lesen. Ich fand Rilke super und vieles anderes auch. Außerdem habe ich mich intensiv mit der deutschen Geschichte auseinandergesetzt. Das hat mir auf gewisse Weise die Augen geöffnet und mich letztendlich von Stereotypen den Deutschen gegenüber befreit. Im dritten Studienjahr gab es dann die Möglichkeit, im Rahmen des Erasmus-Programms, an einem Studentenaustausch teilzunehmen. Ich wollte das unbedingt machen und ging ich für ein Jahr nach Potsdam. Gleichzeitig hat mich aber die Fotografie weiterhin interessiert. Während des ganzen Studiums in Thorn und Potsdam habe ich fotografiert, meistens Reportagen und Portraits, aber auch ein bisschen Architektur. Lustigerweise habe ich meine erste kleine Ausstellung dann mit diesen Architekturbildern gemacht.
Während dieser ganzen Zeit, um einigermaßen up to date zu bleiben, habe ich mir Bücher über Fotografie und Fotozeitschriften gekauft. Eines Tages, ich weiß nicht mehr wie, habe ich von einem Tag der offenen Tür an der Ostkreuzschule erfahren. Diese Schule war mir vom Namen her bekannt und ich wollte mir das unbedingt einmal anschauen. Das Profil der Schule hatte mich angesprochen und dieses Gefühl ausgelöst … nun, es war einfach der Moment in meinem Leben, in dem ich dachte: ‚Ich will noch mal mit Fotografie anfangen, so richtig anfangen‘. Ich ging erst noch einmal zurück nach Polen, um meine Bachelorarbeit zu verteidigen, was auch ganz gut lief. Direkt danach musste ich aber entscheiden, ob ich den Master in Germanistik mache wollte oder nicht. Meine Eltern waren nicht glücklich darüber, aber ich ging einfach aus dem Gebäude raus und habe mich für Fotografie entschieden. Ein halbes Jahr später wurde ich an der Ostkreuzschule angenommen und dank meiner Sprachkenntnisse war es für mich keine große Sache nach Berlin zu ziehen.
Jens Pepper: Gibt es eigentlich viele polnische Fotografen und Fotografinnen in Berlin? Hast du da einen Überblick?
Katarzyna Mazur: Ehrlich gesagt hab ich da keinen Überblick. Diejenigen die ich kenne, bewegen sich in anderen Bereichen, z.B. in der Modefotografie. Die haben ganz anderes Netzwerke. Ich habe neulich eine Bekanntschaft mit einem deutsch-polnischen Fotografen gemacht, der auch an meiner Schule war; da haben wir uns ein wenig ausgetauscht. Ich weiß aber nicht, wie viele andere polnische Fotografen und Fotografinnen hier in Berlin sind.
Jens Pepper: In deiner Bildserie NO ONE LOVES YOU LIKE I DO zeigst du Portraits einiger deiner Verwandten sowie atmosphärische Aufnahmen häuslicher Umgebungen, von denen ich annehme, dass es die von den Portraitierten sind. Der Titel bezieht sich aber gar nicht auf die dir nur genealogisch nahestehenden Personen, denn soweit ich es verstanden habe, kennst du diese Menschen eigentlich gar nicht, sondern auf deren Gefühl ihrer Heimat gegenüber, den Beskiden, die, im Südosten Polens gelegen, zu den ärmsten Regionen des Landes zählen. Kannst du mir etwas zu dieser Serie erzählen, wie sie entstanden ist, was sie für dich bedeutet?
Katarzyna Mazur: Die Bilder sind noch während meines Studiums an der Ostkreuzschule entstanden. Zu der Zeit musste ich ein Thema für meine Abschlussarbeit finden oder zumindest eines vorschlagen. Ich hatte damals ein paar Ideen und eine davon war eine Geschichte über die Holzkohlehersteller im Süden Polens. Wie sie dort leben, völlig abgeschottet vom Rest der Gesellschaft, das hat mich schon immer fasziniert. Außenseiter, Einzelgänger… wie ‚anders‘ als alle anderen muss man sein, um als Außenseiter zu gelten? Diese Frage hat mich schon früher beschäftigt, nicht zuletzt habe ich in meiner Bachelorarbeit in Germanistik über Andorra von Max Frisch geschrieben. Ich wollte also wissen, wer diese Leute, diese Holzkohlehersteller sind, wie ihr Leben aussieht, wie ist es, wenn man komplett alleine mitten im Wald lebt und das nächste Dorf ein paar Kilometer entfernt ist?
Ich fing also an zu recherchieren und mir wurde schnell klar, dass es fast nicht möglich sein würde, diese Leute zu finden, ohne das mir jemand vor Ort hilft. Zusammen mit meinem Vater sind wir nach Bieszczady gefahren, wo auch meine Verwandten wohnen. Wie du schon erwähnt hast, waren mir diese Leute eigentlich fremd, weil ich sie entweder noch nie gesehen hatte oder nur als ich sehr klein war. Das Projekt war also ein guter Anlass, sie endlich mal richtig kennen zu lernen. Ich hatte ihnen bereits vorher von meinem Anliegen erzählt und ein entfernt verwandter Cousin, der sich mit der Umgebung wie kein anderer auskennt, sollte mich zu den Holzkohleherstellern führen. Leider ist das nicht so gut gelaufen, wie ich es mir erhoff hatte, denn die Region hatte sich im Laufe der Jahre verändert und es gab nicht mehr so viele Orte an denen Holzkohleherstellung betrieben wurde, auch wegen eines neuen Umweltschutzgesetz. Das Holzkohlegeschäft befand sich inzwischen zu einem großen Teil in der Ukraine. Der Cousin brachte mich zwar zu einer Gruppe von Köhlern, aber die waren sehr misstrauisch mir gegenüber. Ich konnte die Öfen fotografieren, aber die Leute auf gar keinen Fall. Später hab ich erfahren warum. Viele von denen hatten eine kriminelle Vergangenheit bzw. Hintergrund und versteckten sich dort mitten im Gebirge. Für viele war es eine bewusste Entscheidung dort zu leben und sie wollten nicht gefunden werden. Ich hatte also keine andere Wahl als meine Kamera wegzupacken.
Am gleichen Tag hatten wir dann aber noch einen weiteren Köhler besucht, den mein Cousin kannte. Er hieß Olek, das ist die Abkürzung von Aleksander, und er ist es, der auf einem der Bilder zu sehen ist. Wir hatten einen selbstgemachten Kirschlikör dabei, den wir dann alle zusammen tranken. In diesem Moment war für mich plötzlich die Begegnung an sich sehr viel wichtiger als das Fotografieren. Anfangs hatte ich ja noch fotografiert, aber ab da wollte ich mich nur noch auf das Gespräch einlassen. Am Ende hatte Olek mir alles Gute gewünscht und mich umarmt. Als ich merkte, dass er sich meinen Namen gemerkt hatte, war ich zutiefst berührt, auch wenn das jetzt nach nichts Besonderem klingt. Für mich war das eine der schönsten Begegnungen mit einem fremden Menschen, die ich je hatte. In dem Moment fühlte ich, dass ich irgendwie dazu gehöre, zu dieser ganzen Wildnis, zu meinen Verwandten. Das war meine erste Suche nach meinen Wurzeln. Plötzlich war es für mich nicht mehr so wichtig, diese eine konkrete Geschichte über Holzkohlehersteller zu erzählen. Ich wollte einfach meine letzten Tage in der Region genießen, auch mit dem Wissen, dass ich einige dieser Leute wohl nie wieder sehen würde. Fotografisch habe ich damals nur einfache, kleine visuelle Notizen gemacht und ich weiß, dass diese Arbeit nicht vollendet ist. Aber für mich war es eine erste Auseinandersetzung mit dem Begriff Heimat.
Jens Pepper: Was bedeutet Heimat für dich?
Katarzyna Mazur: Heimat bedeutet für mich Vertrautheit. Es ist für mich nichts, das irgendwie messbar wäre. Natürlich kann man Heimat z.B. auf eine Sprache / Muttersprache reduzieren oder auf den Ort, an dem man aufgewachsen ist, auf die Kindheit und Jugend, also die Zeit, wo man sich als Mensch zu definieren beginnt. Heimat ist ein Gefühl von Sicherheit, die uns vor allem die Leute um uns herum vermitteln. Und es ist ein Gefühl von Freiheit. Es kann auch eine Landschaft sein, ein Fluss, ein Baum, von dem man behauptet: ‚das ist meins‘. Diese Denkweise versuche ich aber zu vermeiden, denn es handelt sich nur um Begriffe, um Grenzen, die keinen offenen Blick auf die Realität zulassen, denn die Realität ist fließend. Als ich nach Berlin zog, spielte es für mich kaum eine Rolle, wo ich herkam. Ich hatte schnell ein neues Netzwerk aufgebaut, einen Freundeskreis gefunden der international war. Ich hatte hier kaum nach polnischen Kontakten gesucht, denn ich wollte nicht nur als Polin wahrgenommen werden, denn es ist nicht das, was mich als Person ausmacht. Ich hatte doch gar keinen Einfluss darauf, wo ich geboren wurde und aufgewachsen bin.
Die vielen Jahre in Deutschland haben mir einen neuen Blick auf Polen ermöglicht. Jedes Mal, wenn ich das Land besuche, habe ich ambivalente Gefühle. Orte, die ich aus meiner Kindheit kenne, sind mir vertraut und fremd zugleich. Da gibt es inzwischen eine neue Generation von Schauspielern, Künstlern und Politikern, von der ich entweder keine Ahnung habe oder nur ganz wenig weiß. Eine neue TV Serie, die meine Oma mit großem Interesse verfolgt… darüber kann sie sich mit mir leider nicht mehr unterhalten. Ich nehme das Land anders wahr. Allein die Architektur; Dinge, die für mich vorher selbstverständlich waren, sehe ich nun mit einem frischen Blick. Dadurch sind für mich die Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen Polen und Deutschland oder auch anderen Ländern sehr viel deutlicher geworden. Generell fühle mich in Berlin wohl und ich würde sagen, dass diese Stadt meine Heimat geworden ist. Vor allem was die Freiheit oder Sicherheit betrifft. Ich fühle mich definitiv sicherer hier als in Polen, wo eine Politik betrieben wird, mit der ich nicht einverstanden bin. Auf der anderen Seite macht es mir aber auch wieder mehr Spaß mich in Berlin mit der polnischen oder deutsch-polnischen Community austauschen. Ich bin offen und lerne hier viele Menschen mit ganz verschiedenen kulturellen Hintergründen kennen. Es kann passieren, dass ich mich mit einem Japaner verbunden fühle, obwohl ich noch nie in Japan war. Ich habe einmal gehört, dass es nicht darum geht, verwurzelt zu sein, sondern vielmehr darum, zu wissen, dass man Wurzeln hat.
Jens Pepper: Gibt es weitere Themen, die dich als Fotografin in Polen reizen würden?
Katarzyna Mazur: Mich interessieren Fragen zum Thema Entfernungen – emotionalen und geografischen. Welche Auswirkung haben sie auf uns? Wie entstehen emotionale Distanz und Nähe und wie gehen wir damit um? Ich musste auch den Begrifft ‚Familie‘ für mich neu definieren. Wie stark identifizieren wir uns selbst mit der eigenen Familie oder wie kommt es zu einer Entfremdung? Im Moment arbeite ich zum Beispiel an einem Projekt über meinen Bruder. Wir beide befinden uns in einem ähnlichen Moment im Leben, wir mussten beide ähnliche Probleme und Ängste überwinden, ohne dass wir uns dabei direkt unterstützen konnten. Ich dachte, das ist ein guter Ausgangspunkt, um unser Verhältnis von Schwester und Bruder unter die Lupe zu nehmen. Welchen Einfluss hatte unsere gemeinsame Kindheit auf mich und wie nehme ich ihn als Mann wahr, nicht nur als Bruder?
Die Frage nach konkreten Themen werde ich noch offen lassen. Jedes Mal wenn ich in Polen bin sammle ich Ideen. Und obwohl sie noch nicht reif sind, weiß ich, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis ich wieder an einem oder mehreren Themen über Polen arbeiten werde.
Jens Pepper: Glaubst du, dass es leichter ist als polnische Fotografin oder als polnischer Fotograf international erfolgreich zu sein, wenn man im Ausland, also nicht in Polen lebt?
Katarzyna Mazur: Es ist sicherlich leichter im Ausland Kontakte zu knüpfen, vor allem in Berlin, aber ich würde nicht sagen, dass es dadurch leichter ist erfolgreich zu sein. Viele polnische Fotografen und Fotografinnen, die in Polen leben, sind international erfolgreich. Die Fotoszene ist dort übersichtlicher, was natürlich seine Vor- und Nachteile hat. Es kommt darauf an, welches Publikum man erreichen möchte. In unserem digitalen Zeitalter kann man letztendlich seine Bilder weltweit von überall her irgendwo hinschicken oder einreichen, da ist völlig egal wo man lebt. Hier in Berlin bin ich nur eine von vielen Fotografen und Fotografinnen. Da spielt es gar keine Rolle, dass ich aus Polen komme.
Jens Pepper: Migration war Thema deiner Serie über eine Vietnamesin, die 1984 nach Berlin kam. Was hat dich an dem Schicksal von Frau Roan interessiert?
Katarzyna Mazur: Die asiatischen Communities haben mich schon immer fasziniert und durch meinen Freundeskreis – einer meiner engsten Freunde kommt aus Südkorea – ist mein Interesse an Asien noch größer geworden. Mich interessieren die Kulturen, die Lebensstile, der Umgang der Asiaten mit Menschen, die Fähigkeit, sich über kleine Dinge zu wundern, die von uns Europäern oft gar nicht beachtet werden. Man ist sich der Welt und seiner selbst bewusster. Es gibt diese innere Gelassenheit, die ich in der westlichen Kultur oft vermisse.
Aber zu deiner Frage: ich hatte großes Glück, Frau Roan kennenlernen zu dürfen. Ihre Enkelin ist Regisseurin und hatte mir viel über die Vergangenheit ihrer Großmutters und deren Leben in Vietnam erzählt. Frau Roan hat unglaublich viel durchgemacht, man kann sich das nur schwer vorstellen. Irgendwann wurde uns klar, dass wir ihre Geschichte festhalten müssen. Wir wollten einfach nicht, dass sie in Vergessenheit gerät. Wir haben viele Interviews mit ihr gemacht und sie in ihrem Alltag begleitet. Ich habe dabei zwei Kameras benutzt; eine zum Fotografieren, die andere zum Filmen. Aus dem Material ist dann ein intimes Porträt einer Frau, Mutter und Großmutter entstanden, die ihr ganzes Leben für die Familie geopfert hat.
Ich weiß nicht, ob ich mich nach ANNA KONDA tatsächlich einem Thema widmen wollte das sehr viel ruhiger ist. Vielleicht war das auch die Sehnsucht nach meinen Großeltern in Polen, an die ich oft denke, seit ich in Deutschland wohne. Ich kann den Gedanken nicht loswerden, dass, wenn ihnen etwas passiert, ich nicht dabei sein kann. Als ich jünger war, haben meine Großeltern viel von ihrer Vergangenheit erzählt, aber ich hatte nicht genug Geduld oder Interesse, mir diese Geschichten anzuhören. Jetzt würde ich sie mir genau anhören, aber meine Großeltern bleiben diesbezüglich während meiner Besuche eher still und genießen die kurze Zeit mit mir. Wir kommunizieren über Blicke oder ein Lächeln… Natürlich unterhalten wir uns auch, aber meistens über das Gleiche.
Jens Pepper: Sind deine Großeltern dann nicht ein Thema für dich, für deine Fotografie?
Katarzyna Mazur: Als Fotograf setzt man sich mit Themen auseinander, die mehr oder weniger bewegen, auch wenn es nicht immer direkt auf den Bildern zu sehen ist. Ich denke in letzter Zeit viel über den Tod nach bzw. über den Verlust derjenigen, die in meinem Leben immer da waren. Im konkreten Fall sind das meine Großeltern. Meine ganze Kindheit und Jugend sind mit ihnen verbunden. Wir hatten ein ganz enges Verhältnis und jetzt wird mir immer klarer, dass sie eines Tages nicht mehr da sein werden. Mein Großvater war der sportlichste Mensch, den ich jemals kennengelernt habe. Durchtrainiert und fit hatte er mit 81 Jahren noch Tennisunterricht gegeben, bis er vor einem Jahr einen Unfall erlitt. Seitdem ist sein Allgemeinzustand schlechter geworden. Er ist praktisch zu einem ganz anderen Mensch geworden, der auf die Hilfe von anderen angewiesen ist, was ihn sicherlich zu schaffen macht. Jedes Mal, wenn ich in Polen bin, versuche ich mir so viel Zeit wie möglich zu nehmen, um bei meinen Großeltern zu sein. Ich möchte natürlich nicht, dass sich jedes Treffen für mich wie ein kleiner Abschied anfühlt, aber ich will diese Zeit bewusst nutzen. Wir tendieren dazu, Dinge als selbstverständlich zu nehmen, auf die wir keinen Einfluss haben. Vor kurzem ist hier in Berlin meine Nachbarin verstorben, die am 1. Juli ihren 91 Geburtstag gefeiert hätte. Diese Nachricht kam sehr unerwartet, da ich mich noch ein paar Tage zuvor mit ihr unterhalten habe. Ich ertappe mich immer wieder dabei, wie ich Blicke auf ihre Haustür werfe und dabei denke, dass sie gleich rauskommen und wir dann miteinander reden würden bzw. ich würde zuhören, wenn sie mir noch einmal ihre Lebensgeschichte erzählt. Ich würde ihr eine Marmelade geben und sie würde darauf bestehen, mir eine Schokolade zu geben. Das gehört aber bereits zur Vergangenheit.
Jens Pepper: Hast du sie mal fotografiert? Ein Schnappschuss oder richtig portraitiert?
Katarzyna Mazur: Meinst du meine Großeltern oder die Nachbarin?
Jens Pepper: Die Nachbarin.
Katarzyna Mazur: Meine Großeltern habe ich beide zusammen mal richtig porträtiert, analog im Mittelformat. Von meiner Nachbarin habe ich einen Schnappschuss.
Katarzyna Mazur. Studierte an der Ostkreuzschule für Fotografie und Gestaltung. Lebt und arbeitet als freiberufliche Fotografin in Berlin. www.katarzynamazur.com (Die Homepage wird derzeit überarbeitet und ist erst in ein paar Tagen wieder zu erreichen.)