"Dominika, 13" aus der Serie "Waiting Room" von Zosia Prominska

Jens Pepper: Geht man auf Ihre Homepage ist das erste, was man dort sieht [Stand 30. März 2020], ein Foto, das die verwüstete Stelle zeigt, auf der sich bis vor kurzem eines der ersten Hochhausensembles der Freien und Hansestadt Hamburgs – der City-Hof – befand, erbaut in den späten 1950er Jahren, nun aber, trotz zahlreicher Proteste, abgerissen. Sie haben die letzten Tage des Gebäudes und den bisherigen Abriss dokumentiert und die Fotografien als aktuelles Projekt auf ihrer Homepage eingestellt, Titel: „A Requiem for the Cityhof“. Ist dies ein Thema, das sie persönlich berührt oder haben Sie die Aufnahmen als neutraler Beobachter gemacht?

Peter Bialobrzeski: Die Cityhof Häuser haben mich schon immer „irgendwie“ fasziniert, ich habe mir allerdings nie die Mühe gemacht, sie zu fotografieren. Als ich von dem Abriss hörte und von den skandalösen Umständen, die ihn ermöglichten, hatte ich den Ehrgeiz, den Prozess fotografisch zu begleiten. Seit diesem Wochenende ist das gesamte Gelände eine Brache.

Jens Pepper: Werden Sie den ganzen Prozess der Transformation begleiten, also auch die kommenden Bauarbeiten, bis hin zur Fertigstellung des neuen Gebäudes, das an dieser Stelle geplant ist?

Peter Bialobrzeski: Nein, das neue Gebäude und der Weg dahin interessieren mich seltsamerweise nicht.

Jens Pepper: Ihre Heimatstadt Hamburg ist eher selten Thema Ihrer Arbeit, zumindest in dem Teil, der publiziert und veröffentlicht ist. Hat das einen bestimmten Grund? Sind Fernweh und Reiselust die bestimmenden Impulsgeber Ihrer Karriere als Fotograf?

Peter Bialobrzeski: Oh, da haben Sie wahrscheinlich die Arbeit „Docklands“ übersehen.

Jens Pepper: Nein, nein, die Bilder kenne ich. Dennoch ist Ihre Heimatstadt nur gelegentlich Ihr Thema. Ein Eugene Atget Hamburgs sind Sie sicherlich nicht.

Peter Bialobrzeski: Nein, ich denke nicht. Das hat aber auch damit zu tun, dass für meine Generation natürlich die Tür zur Welt – zumindest bis zum Ausbruch von SARS 2 – weiter offenstand, als für Atget. Beispielsweise fotografiere ich aber seit den Kontaktbeschränkungen auch in Hamburg in verschiedenen Vierteln. Die Leere ermöglicht Bilder, die sonst viel schwerer zu bekommen wären. Der Prozess in einer stillen Stadt zu arbeiten ist auch ein anderer. Gestern habe ich in Hamburgs Innenstadt fotografiert und war fasziniert von allem bislang Übersehenen.

Jens Pepper: Was haben Sie denn bisher übersehen? Was hat Sie fasziniert?

Peter Bialobrzeski: Das kann man mit Worten nicht wirklich beschreiben. Tatsächlich ist es ja so, dass ich, wie die meisten auch, das mich alltäglich Umgebende mit Scheuklappen und eher funktional wahrnehme. Erst wenn ich konzentriert mit Kamera und Stativ anfange, die Zeichen zu analysieren und zu ordnen wird ein Bild draus.

Jens Pepper: Können Sie diesen Prozess beschreiben? Wie analysieren und ordnen sie mit der Kamera und dem Stativ? Das steht ja beispielsweise konträr zu der Arbeitsweise vieler Straßenfotografen, die intuitiv auf den Auslöser drücken, manchmal auch ohne einen Blick durch den Sucher zu werfen. Analysiert wird da vorab eher selten, eher wird gefühlt, dass eine gewisse Situation auch im Bild ein interessantes Motiv abgeben wird.

Peter Bialobrzeski: Natürlich spielt auch hier Intuition und Erfahrung eine große Rolle. Die digitale Technik erlaubt es mir, einem Scanner gleich Material zu sammeln. Ich bewege mich von Straßenecke zu Straßenecke, ordne den Raum und natürlich findet die endgültige Analyse erst mit der Bildauswahl statt.

Jens Pepper: An guten Tagen: wie viele Aufnahmen machen Sie? Und wie viele Bilder kommen bei der anschließenden Sichtung in die engere Auswahl? Wie schnell nach dem Fotografieren sichten Sie eigentlich die Bilddaten?

Peter Bialobrzeski: Im Schnitt fotografiere ich etwa 20-25 verschiedene Einstellungen pro Session, Minimum zwei Datensätze pro Einstellung, die ich aber über Shiften variiere und später mit Lightroom automatisch zusammensetze. Das Seitenverhältnis ist, abhängig vom Projekt, 3:4 oder 4:5. Nach dem fotografieren, immer abhängig ob es ein Langzeitprojekt oder ein „Diary“ ist, nehme ich eine Vorauswahl vor, so dass ich pro Einstellung einen Datensatz in einem Ordner habe. Die Auswahl reduziere ich dann immer mal wieder.

Bei den „City Diaries“ sitze ich nach meiner morgendlichen Foto-Aktivität meistens drei Stunden am Computer und habe am Ende der Woche vielleicht 120 Takes in der engeren Auswahl. Davon belichte ich 80-100 Bilder zeitnah in einem 13x18cm großen Format aus und sequenziere die Strecke. Relativ häufig nehme ich die Bilder auch mit in meine Masterseminare und schaue, welche Kriterien die Studierenden bei der Auswahl anwenden würden.

Jens Pepper: Vor drei Jahren haben Sie ein „Diary“ in Wuhan gemacht. In Angesicht der Coronakrise, die ihren Anfang wohl genau dort nahm, also eine auch tagesaktuell sehr interessante Wahl. Weshalb war für Sie Wuhan eine ideale Stadt für das Diary-Projekt? Kannten Sie sie bereits?

Peter Bialobrzeski: Ich kannte Wuhan aus dem Jahr 1987, ich stoppte dort auf einer Reise, den Yangtse hinunter, auf dem Weg von Chongching nach Shanghai. Eine völlig andere Stadt. Es gibt eine Reihe von bekannten Fotografien von Thomas Struth aus Wuhan, so dass ich schon eine Vorstellung hatte, als das Goetheinstitut mich einlud gemeinsam mit dem chinesischen Fotografen Tang Jing dort an einer Ausstellung zu arbeiten, die dann im Wuhan Art Museum gezeigt wurde. Insofern war auch die Produktion eines Wuhan Diary aus der Arbeit folgerichtig, zumal die Stadt, bis zur Coronakrise im Westen weitgehend unter dem Radar lief.

Jens Pepper: Das Buch ist bei The Velvet Cell erschienen, ein unabhängiger Verlag, der derzeit in Berlin residiert. Gedruckt wurde es in einer Auflage von 500 Exemplaren. Es ist aktuell ja noch nicht ausverkauft. Hat die Nachfrage nach diesem Buch wegen der plötzlichen Bekanntheit Wuhans eigentlich angezogen?

Peter Bialobrzeski: Soweit ich weiß nicht. Es gab eine kurze Besprechung des Buches auf der Website des ORF. Seltsam… Ich denke, dass Wuhan im Weltgedächtnis ungefähr so populär wie Fukushima, Lockerbie oder Tschernobyl ist. Später, in 20 Jahren wird es natürlich sehr interessant sein, was dann für alle Diaries gelten dürfte.

Jens Pepper: Nach welchen Kriterien werden die Städte für die Diaries ausgewählt? Sind es Sehnsuchtsziele, wird die Auswahl eher strategisch getroffen oder spielt auch der Zufall eine Rolle? In Wuhan hatten Sie die Einladung des Goethe Instituts, sie konnten die Arbeit am Diary also mit einer anderen Aufgabe verbinden. Hier noch eine Nebenfrage: waren es die Fotos für das spätere Diary, die Sie damals auch im Wuhan Art Museum gezeigt haben?

Peter Bialobrzeski: Da kann man nur mit sowohl als auch antworten. Zum einen habe ich relativ häufig das Glück zu Workshops, Vorträgen, Studienreisen etc. eingeladen zu werden. Dann bleibe ich, wie kürzlich noch in Florenz und Turin mindestens eine Woche und fotografiere. Zum anderen habe ich auch Städte wie Yangon und Bangkok aus eigenem Antrieb besucht. Leider sind die beiden Diaries noch nicht erschienen. Und ja, die Fotos im Wuhan Museum wurden später im Diary gedruckt, allerdings konnte ich im Museum eine Reihe von Fotos nicht zeigen. So wurde ich durch eine Schere im Kopf der beteiligten chinesischen Institutionen aus Angst vor dem Zensor freundlich aufgefordert eine alternative Auswahl zu zeigen.

Jens Pepper: Was war auf den Fotografien zu sehen, die nicht ausgestellt werden sollten?

Peter Bialobrzeski: Nicht wirklich etwas, das aus westlicher Sicht zensurwürdig ist, mal ’ne Ruine, vielleicht haben die Bilder die ich wirklich mag, grundsätzlich zu wenig Glamour.

Jens Pepper: Seit 2002 sind Sie Professor an der Hochschule für Künste in Bremen. Als gebürtiger Bremer, der dort auch aufwuchs und in die Lehre ging, würde ich gerne wissen, ob Sie die Hansestadt schon einmal als Objekt für ein Diary ins Auge gefasst haben?

Peter Bialobrzeski: Tatsächlich nicht, mein Verhältnis zu Bremen ist eher ambivalent, vielleicht weiß ich einfach zu viel über die Stadt, dass macht eine flüchtige Begegnung, die den meisten Diaries innewohnt unmöglich. Hamburg und Berlin fände ich wohl ähnlich problematisch.

Jens Pepper: 2016 hatte ich für das Goethe Institut in Warschau mal über Ihr Foto „Heimat 31, Schwarzwald“ einen Text geschrieben; der war für ein Online-Projekt des Instituts gedacht, das dann letztendlich nicht zustande kam. Es hatte mir aber viel Spaß gemacht, über dieses Bild, das ich mir ausgesucht hatte, etwas zu schreiben. Eine Tolle Aufnahme. Was bedeutet Ihnen persönlich eigentlich Heimat? [PB erhielt den Text von mir zusammen mit dieser Frage zugemailt]

Peter Bialobrzeski: Ihre Frage muss ich ausnahmsweise anekdotisch beantworten: Nach einem Jahr in London spazierte ich mit einer aus der Nähe von Düsseldorf stammenden Freundin, die ebenfalls in London lebte einen Bahndamm im Ruhrgebiet entlang. Zwischen Kleingärten und Brachland stieg uns ein unverwechselbarer Geruch in die Nase. Sie sagte: So riecht zu Hause, das ist Heimat. Ich pflichtete ihr bei. Heimat ist ein Amalgam gespeist aus Wahrnehmungen, die sowohl sensorischer als auch individuell historischer Natur sind. Emotionale, wie rationale Erfahrungen prägen das Bild, das sich wiederum zwischen Ratio und emotionaler Erinnerung einpendelt. Und natürlich spielen, wie in Ihrem Text dann auch noch, dem Arbeitsfeld entsprechende Prägungen eine Rolle, wie Caspar David Friedrich, aber auch die Fotos von Dirk Reinartz und Stephen Shore.

Ich zitiere auch mal aus meinem Vorwort zum Buch „Heimat“ von 2005: »Heimat« bedeutet, Wurzeln zu haben, nicht notwendigerweise verwurzelt zu sein. Die Erde, aus der sie stammen, bestimmen den Code, nicht aber die Substanz. So ist „Heimat“ auch kein Buch über Deutschland als Heimat, sondern entwirft ein Bild, das jenseits dunkler Vergangenheit, Wiedervereinigung und
»German Disease« ein persönliches Stück Bild- und Kulturgeschichte fixiert.

Jens Pepper: An welchen Orten fühlen sie sich denn heimisch. Ist es Hamburg oder sind es viele Orte, die sie im Laufe der Jahre liebgewonnen haben?

Peter Bialobrzeski: Tatsächlich fühle ich mich heimisch in Hamburg, aber auch das platte Niedersächsische Land, zwischen meiner Heimatstadt Wolfsburg und meinem jetzigen Wohnort hat was sehr Vertrautes. England ist mir nahe, genauso wie seltsamerweise Indien. Wenn ich den etwas fauligen, feuchten Geruch der Aircondition in der Ankunftshalle von Bombay oder Delhi roch, fühlte ich mich mehr zu Hause, als wenn ich in Paris-Charles de Gaulle in den RER stieg und in traurige Gesichter blickte, während der Regen an die Scheibe schlug und die endlose Banlieue vorbeizog.

Jens Pepper: Wie ist eigentlich Ihre Reiselust entstanden? Haben Sie schon als Jugendlicher davon geträumt, die Welt zu bereisen?

Peter Bialobrzeski: Ja, ich bin als Kind schon gerne verreist, als Jugendlicher sowieso, nach dem Abi bis das Geld alle war nach Griechenland getrampt. Allerdings war die Berufswahl eher von der Liebe zu Bildern geprägt, als vom Reisen, hätte ich mir doch als Junge aus Wolfsburg nicht vorstellen können, dieses jemals zu verbinden. Die Welt schien kleiner in den 1980er Jahren

Jens Pepper: Was für Bilder haben Sie damals inspiriert? Gab es Fotografen und Fotografinnen, deren Arbeiten sie großartig fanden? Oder war da ganz allgemein die Liebe zum fotografischen Bild?

Peter Bialobrzeski: Ganz früher waren es sicher nur die Bilder an sich, später in den frühen 80ern dann André Gelpke, Rudi Meisel, Timm Rauter mit seinen Arbeiten für das ZEITmagazin.

Jens Pepper: Zunächst haben sie dann ja aber erst einmal Politik und Soziologie studiert und dann erst den Schritt hin zum Studium der Fotografie in Essen und London gewagt. Waren Sie anfangs bezüglich der Berufswahl noch unsicher?

Peter Bialobrzeski: Das ist ja nicht alles, nach dem Zivildienst bin ich erstmal Taxi gefahren, das Studium habe ich abgebrochen um dann ein Volontariat bei einer Wolfsburger Tageszeitung zu absolvieren. Danach war ich dann 10 Monate in Asien, hab danach in London bei Network Photographers ein Praktikum gemacht, dann habe ich in Essen angefangen zu studieren. Nach London ging ich dann mit einem DAAD Stipendium, wo ich weniger studierte, als vielmehr meine Abschlussarbeit für die Folkwangschule realisierte. Sie erscheint dieser Tage als Buch, zeitgleich in Europa bei Hartmann Books und in England und den USA bei Dewi Lewis.

Jens Pepper: Können Sie mir etwas über diese Abschlussarbeit erzählen? Gelangen die Aufnahmen eigentlich durch diese neuen Publikationen erstmals in die Öffentlichkeit, oder wurden sie vereinzelt oder in Gänze schon vorher ausgestellt oder abgedruckt?

Beter Bialobrzeski: Die Arbeit wurde 1994 mehrfach ausgestellt, in Essen im Kunsthaus, in der Nikon Galerie in Zürich, sowie in der Side Galerie in Newcastle. Es gab kleine, ausschnitthafte Publikationen, aber niemals umfassend. Die Buchpublikation von „Give my Regards to Elizabeth“ jetzt ist in Form und Inhalt identisch mit dem Buch–Dummy, das ich 1993 als Diplomarbeit eingereicht hatte.

Jens Pepper: Ich habe mir die Beispielfotos gerade auf Ihrer Homepage [www.bialobrzeski.net] angesehen – das ist ja einer der Vorteile, wenn man ein Interview online führt, dass man so etwas machen kann. Eine tolle Bildserie. Der Mensch steht noch stark im Vordergrund, die Farbigkeit in den Aufnahmen ist interessant. Was haben die Juroren oder Prüfer damals zu ihrem Buch-Dummy gesagt? Wie wurde das Erreichen des Diploms mit dieser Arbeit begründet?

Peter Bialobrzeski: Es fanden alle gut, an die Begründung erinnere ich mich nicht, nur dass ich das Diplom mit Auszeichnung erhalten habe.

Jens Pepper: Sie unterrichten ja auch Fotografie. Gibt es in Ihrer Lehre etwas, das Ihnen besonders wichtig ist, dass Sie den Studenten unbedingt mit auf den Weg geben möchten?

Peter Bialobrzeski: Ich versuche zu vermitteln, dass ein Einfall noch keine Idee ist und weder Kreativität noch Phantasie ausreichen um ein Fotoprojekt zu realisieren, welches auch von Interesse außerhalb der Hochschule sein könnte. Erst die Verortung im kulturellen Kontext und natürlich kontinuierliches, diszipliniertes Arbeiten am eigenen Thema wird es dann zu einem Projekt von gewisser Relevanz machen können. Also: Erst denken, dann abdrücken.

Jens Pepper: Ein guter Schlusssatz. Dann danke ich Ihnen für das anregende Gespräch.

(Das Interview wurde zwischen dem 30. März und 18. Mai 2020 online via E-mail geführt)

Zosia Prominska. Selbstportrait

Peter Bialobrzeski, Jahrgang 1961, ist gebürtiger Wolfsburger, lebt in Hamburg, unterrichtet als Professor an der Hochschule für Künste in Bremen und ist ein leidenschaftlicher Weltreisender. Die Fotografien des zweifachen World Press Photo Award Gewinners erscheinen nicht nur in der Presse und werden in Ausstellungen gezeigt, sie werden auch in äußerst erfolgreichen Büchern veröffentlicht. Aktuell erschien „Give my Regards to Elizabeth“ bei Hartmann Books in Stuttgart.

www.bialobrzeski.net