“Die Exhibitionisten begegnen den Voyeuren auf einer Ebene.” – Jens Pepper und Klaus Honnef über zeitgenössische Aktfotografie
Jens Pepper: In ihrem aktuellen Beitrag für die Kunstzeitung beschreiben sie den Bedeutungswandel der Aktfotografie und ihre in ihren Augen zunehmende Seichtheit und Gleichförmigkeit. Sie vermissen innovative und mutige Künstler und Fotografen, die Tabus zu brechen oder ästhetische und gesellschaftliche Impulse zu geben in der Lage sind. Dabei haben sie mit Ryan McGinley ja selbst einen Namen genannt, der eine wohltuende Frische in das Sujet bringt, auch ganz ohne Tabubruch. Ich sehe die Situation nicht so verfahren wie sie, denn neben all den, ich will mal sagen, Mainstreamfotografen, gibt es, wie es ja immer der Fall war, auch Ausnahmeerscheinungen. Denken sie zum Beispiel an Jürgen Teller, der, aus der Modefotografie kommend, sich nackt auf einem Flügel rekelnd, in seiner Korpulenz selbst portraitiert. Das ist doch eine Position, die nicht gekünstelt ist sondern ehrlich und authentisch. Ein paar solche Persönlichkeiten reichen doch völlig aus, um sagen zu können, die Aktfotografie bringt nach wie vor Spannendes hervor, auch in unserer Zeit.
Klaus Honnef: Ich halte es mit meinem Lehrer René König. Auch die Haltung der Nackten am Strand ist keineswegs ursprünglich, sondern “parure”, ist Ausdruck eines kulturellen Gepräges, gehorcht den umfassenden Gesetzen der Mode. Was derzeit in den fortgeschrittenen Konsum- und Mediengesellschaften sichtbar wird, gibt ihm recht. Der nackte Körper ist sogar längst zu einer Art undurchsichtigem Anzug geworden, dessen Erscheinungsbild man unbekümmert mit Hilfe von Sport, Diäten und chirurgischem Besteck nach Gutdünken modelliert wie eine Figur aus Ton. Die ostentativ und massenhaft zur Schau gestellte Nacktheit hat ihn förmlich entmenschlicht, indem er ihn entsexualisiert und enterotisiert hat, so dass er längst das Gegenteil von Authentizität “verkörpert”. Der scheinbar auf ewig jung gestylte menschliche Körper weist nur auf die makellosen Körper der “Hubots”, der künstlichen Menschen (Robotern), voraus, die im Fernsehen oder Kino zirkulieren: klischeehaft schön, sauber, mechanisch – und dienstbar. Dass sich in ihnen auch Gefühle entwickeln, bildet den utopischen Ausblick. Dass die Fotografie diesem Prozess auf dem Weg in die Künstlichkeit, dessen Komplize sie ist und war, etwas entgegen setzten kann (und wird), sehe ich nicht.
Jens Pepper: Oh, das sehe ich aber anders, zumindest in einigen Punkten. Ohne Zweifel ändert sich das Bild des Körpers durch die Konsum- und Mediengesellschaft. Das ist aber kein neues Phänomen, sondern Veränderung findet immer statt und wird es auch in Zukunft geben. Auch dass die massenhafte Darstellung des Körpers, also des nackten Körpers bis hin zur Pornografie enterotisierend wirkt, kann ich zumindest für mich nicht behaupten. Doch ich will wieder konkret zurück zur künstlerischen Fotografie kommen. Klar, dadurch, dass heute alles möglich ist, schockiert vieles auch nicht mehr. Ein Robert Mapplethorpe könnte heutzutage nicht mehr seine Karriere mit Aufnahmen aus dem schwulen S/M-Milieu starten, weil die nicht mehr einzigartig wären. Mapplethorpe hatte für seine Themata das, na, sagen wir mal Glück in einer Zeit zu leben, in der Sexualität durch starke Tabus, gesellschaftliche Vorurteile und auch Gesetze eine enge Eingrenzung erfuhr. Da fielen seine Arbeiten auf und wurden kontrovers debattiert. Das hat seine Karriere beflügelt, er wurde international rezipiert. Im Langzeitgedächtnis hingegen sind seine am klassischen Ideal ausgerichteten Akte und seine Blumenstillleben stärker verankert. Also nicht das kontroverse Werk. Und seien wir ehrlich, längst nicht alles was Mapplethorpe fotografiert hat war herausragend sondern einfach nett anzusehen. Denken sie an das Buch über seine langjährige gute Freundin Liza Lyon. Aus heutiger Sicht ist der größte Teil dieser Bilder banal und langweilig. Aber das ist doch Ok so, die Gesellschaft geht weiter, die Interessen und Ansichten ändern sich und eine neue Generation von Fotografen sucht sich ihre Themen und bemüht sich um neue Aspekte. Wenn wir dann mal eine Zeit der netten Bilder erleben ist es eben so. Irgendwann ist es den Leuten langweilig und dann kommt etwas Neues. Man muss auch nicht krampfhaft einen Tabubruch hervorzaubern. Das hat jetzt zwar nichts mit Fotografie zu tun, aber ich denke gerade an Santiago Sierra, der in einer seiner Aktionen vier drogensüchtigen Prostituierten eine Linie auf ihren Rücken hat tätowieren lassen und ihnen dafür den Gegenwert für einen Schuss Heroin gezahlt hat. Er und ein Großteil der Kunstkritik halten diese Aktion für eine großartige provokante Gesellschaftskritik. Ich finde sie nur ekelhaft und dekadent, denn Sierra bringt Frauen dazu sich selbst zu verstümmeln, ihren Körper, mit dem Sie ihr Leben finanzieren, zu verunstalten. Das ist die Aktion eines wohlhabenden, satten Menschen der sich selbst auf Kosten anderer in den Mittelpunkt stellt. Kritik lässt sich auch anders formulieren. Also, ich finde nicht, dass Kunst und Fotografie einem Prozess auf Teufel komm raus etwas entgegen stellen muss. Sobald die L’Art pour l’Art Attitüde in der Aktfotografie langweilt, wird der Blick der suchenden Konsumenten, Kritiker und Kuratoren schon die Positionen herauspicken, auf die es in der nächsten Dekade ankommt.
Klaus Honnef: Dass sich das Verhältnis zum Körper vollständig versachlicht hat, dass der Körper inzwischen als eine Art Maschine begriffen wird, die sich tendenziell bei entsprechender Behandlung regenerieren lässt, ist schon etwas Neues in der Menschheitsgeschichte und hat einschneidende Auswirkungen auf seine Darstellung im Bild. Damit schwindet im Prinzip schon der essentielle Unterschied zwischen Körper und Bild. Der Körper wird in letzter Konsequenz selbst zum Bild. Das Bedürfnis, ihn halb oder ganz nackt in der Öffentlichkeit zu zeigen, wie es von Sommer zu Sommer in ansteigender Form zu erleben ist, wobei dieses demonstrative Zeigen nicht als Appell, ihn zu berühren, missverstanden werden darf, illustriert die Sache hinreichend. Noli me tangere. Nur tiefe Blicke sind gestattet. Die Exhibitionisten begegnen den Voyeuren auf einer Ebene des symbolischen Austauschs – take and give. Laut “Spiegel” soll ja Autoerotik das Gebot der Stunde sein, ebenfalls mit steigender Intensität. In den Bildern von Robert Mapplethorpe tut sich dagegen noch die skandalisierende Kluft zwischen dem klassischen Ideal der Kalokagathie, des schönen Geistes im schönen Körper, und der abgründigen Seite (s)einer exzessiven sexuellen Begierde auf. Mit dem Schwinden der humanistischen Bildung geht allerdings der Sinn für diese kühne Art der Provokation verloren. Im sterilen Körper der neueren Aktfotografie ist das dunkle, das animalische Element des Menschseins gleichsam wegoperiert – mit Hilfe der digitalen Technik kein Problem und schmerzfrei. Narben sind nicht (mehr) zu sehen oder andere kosmetische „Unvollkommenheiten“. Übrig bleiben mehr oder minder attraktive Menschen in mehr oder minder künstlichen Verrenkungen. Ich habe nichts gegen hübsche Dekoration. Doch klinisch saubere Bilder schöner Frauen, schöner Männer in dekorativer Hin-Richtung finde ich eher belanglos und total unnatürlich.
Jens Pepper: Aber wieder sprechen sie von der Masse und negieren, dass es immer auch Fotografen und Künstler gibt, die diesem Trend in keinster Weise folgen. Im vergangenen Jahr habe ich Bilder der Fotografin Benita Suchodrev gesehen, die Frauen um die 50 gebeten hat, sich erotisch bis nackt zu inszenieren, also Frauen, die bereits einen Großteil ihres Lebens hinter sich haben und die Narben der Zeit auf dem Körper tragen. Das sind keine exhibitionistischen Bilder und stehen völlig gegen den Trend der in Hochglanzmagazinen präsentiert wird. Das sind Statements von Frauen, die sagen; hier bin ich, so sehe ich aus, ich bin auch noch da. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass sie, der sie so viel unterwegs sind und so viel zu Gesicht bekommen, nicht auch die eine oder andere Position entdecken, von der sie sagen: wunderbar, die Aktfotografie gebe ich noch nicht völlig verloren.
Klaus Honnef: Natürlich sind auch die Bilder von Frau Suchodrev im Prinzip exhibitionistische Bilder. Dagegen ist auch nichts zu sagen, es ist unvermeidlich, ebenso, dass sie sich an unsere voyeuristischen Gefühle adressieren. Ich kenne die Bilder aber nicht. Deshalb kann ich mir auch kein Urteil über sie bilden. Dass viele Frauen über 50 eine erheblich erotischere Ausstrahlung haben als die sterilen Puppen-Schönheiten im Alter zwischen 17 und 22 der grassierenden Casting Shows – geschenkt. Im Kino feiern sie von Meryl Streep über Kristin Scott-Thomas und Catherine Deneuve bis Charlotte Rampling derzeit große Erfolge – wunderbar. Nick Knight und andere sind noch weiter gegangen und haben die erotische Kraft von behinderten Körpern gezeigt – ohne Schlüsselloch-Perspektive, aber mit einem Schuss von attraktiver Beunruhigung. “Bilder, die noch fehlten” hieß unsere Ausstellung mit ein paar unglaublich prägnanten und anziehenden Beispielen dieser Sorte von Bildern. Das Schlimme an der gegenwärtigen Aktfotografie ist ja, soweit ich es sehe, dass sie in jeder Beziehung “politically correct” ist. Und penetrant züchtig zugleich. Wie sich ja auch die sexuelle Praxis im deutschen Beamtenfernsehen nur noch in Hut und Mantel, in voller Montur vollzieht, reduziert auf ein gymnastisches Rubbeln, also verzichtbar ist. Deshalb ist die momentane Aktfotografie auch so unerträglich langweilig – wie das meiste in der Kunst und der Kunstfotografie. Leider. In den großen Museen der Welt geht in den Abteilungen für die Kunst und Kultur vor Aufbruch der Moderne, die „alte Kunst“ also, die Post erheblich vehementer ab. Ein Vergleich lohnt, ist aber für viele Aktfotografen deprimierend. Vom Gegenteil ließe ich mich allzu gerne überzeugen.
Jens Pepper: Ach, ich glaube nicht, dass das für die so deprimierend ist, viele werden das eher ignorieren. Aber die, die ein waches Auge haben, finden vielleicht Inspiration in diesen Museumsabteilungen, die ja auch Ethnologische Departments mit einschließen. Haben sie denn gerade einen heißen Tipp, was man sich unbedingt anschauen sollte? Manchmal muss man ja auf etwas gestoßen werden.
Klaus Honnef: Ich befürchte, im ersten Fall haben sie recht. Wer sich allerdings in den Bildentwürfen der Vergangenheit umtut, egal ob in Kunst- oder Ethnologie-Museen, und sich inspirieren lässt, läuft Gefahr, die Grenzen dessen, was “politically correct” vorschreibt, zu verletzen. Der Kunst täte das gut, den Urhebern vermutlich weniger.
Einen heißen Tipp zur Anschauung? Die Kunstgeschichte in den Museen der Welt – Prado, Louvre, Eremitage, die National Galerien von London und Washington, nicht zu vergessen die Gemäldegalerie in Berlin, so lange Kuratorenhochmut sie nicht zerstört, und in der allfälligen Literatur. In puncto erotischer Kunst, ein etwas umfassenderes Gebiet als die Gattung des Aktes, immer noch die vielen Bücher des Sammlers Eduard Fuchs. Vor allem wegen der immensen Fülle der leider schlecht reproduzierten Abbildungen, auch wenn umfangreichen Analysen des Autors nur noch in Grenzen zeitgemäß sind. Nicht vergessen sollte man aber auch, dass der nackte Körper früher nicht allein erotisch-sexuelle Assoziationen auslösen sollte, sondern gerade in der christlichen Mythologie auch die Unschuld und Reinheit symbolisierte. Aus diesem Zwiespalt schlugen viele Künstler indes die ästhetischen Funken.
Jens Pepper: Gibt es für sie gegenwärtige Aktfotografien, von denen sie glauben, dass sie die Zeit überdauern werden? Es müssen jetzt nicht unbedingt Aufnahmen junger Fotografen und Fotografinnen sein.
Klaus Honnef: Obwohl ich – im Rückblick – offenbar eine besondere Intuition für die Künstlerinnen und Künstler hatte, die fotografischen eingeschlossen, und deren Arbeiten bereits früh ausgestellt und kritisch gewürdigt habe, die inzwischen die visuellen Vorstellungen der Zeit maßgeblich prägen, bin ich alles andere als ein Prophet. Aus langer Erfahrung bin ich jedoch davon überzeugt, dass Bilder von Autoren, die selbst den anziehenden nackten Körper im Netz vieldeutigster Bezüglichkeiten zeigen, im Focus seiner hellen und dunklen Punkte, sowie den spezifischen Blick der Betrachter gleich mit thematisieren, die darüber hinaus noch ein Licht auf die kollektiven Erwartungen und Befindlichkeiten ihrer Zeit werfen, überdauern werden. Für die unmittelbare Vergangenheit wären das Bilder von u. a. Helmut Newton, Guy Bourdin, Bettina Rheims, Robert Mapplethorpe, Nan Goldin, Larry Sultan, Jürgen Teller, Miroslav Tichy´, Nobuyoshi Araki, Antoine D´Agata, Boris Mikhailov – und etliche andere, doch alle keine reinen Aktfotografen. Der Akt als Akt, als bloße Vergegenwärtigung eines nackten weiblichen oder männlichen Körpers, ist, glaube ich, kein herausforderndes Bildthema mehr.
Jens Pepper: Wie bewerten sie eine Position wie die von Terry Richardson, der sich erfolgreich im Spektrum zwischen harter Pornografie und Modefotografie bewegt?
Klaus Honnef: Grundsätzlich ist er einer der Fotografen, die realisieren, was ich von einem “notwendigen Bild” (Robert Bresson) erwarte. Seine Gefahr ist allerdings, dass er den Verlockungen des Kommerzes und des Spektakulären allzu oft nachgibt. Viele seiner Bilder fallen demzufolge ziemlich vordergründig aus und huldigen lediglich dem Voyeurismus, ohne dass sie jenes Quäntchen Erschrecken und Schaudern mitliefern, das sie von einer auf pornographische Elemente setzende Werbefotografie abhebt.
Jens Pepper: Ich denke, dass Richardson ein Phänomen unserer Zeit ist. Sexualität bis hin zur harten Pornografie ist heutzutage in unserer Gesellschaft kein Tabu mehr und wird von vielen auch nicht mehr als anstößig empfunden, was meiner Meinung nach auch in Ordnung ist. Interessant ist aber etwas, das mir eine befreundete Studentin kürzlich erzählt hat, nämlich dass etliche ihrer Kommilitonen und Kommilitoninnen gar nicht mehr in der Lage sind zwischen einem künstlerischen Akt und reiner Pornografie zu unterscheiden. Und genau deshalb, weil es immer häufiger keinerlei Unterscheidung mehr gibt, kann eine Person wie Richardson beispielsweise für ein Modelabel wie Sisley erfolgreich Kampagnen mit starken pornografischen Andeutungen fotografieren. Es irritiert dann auch keinen, dass er parallel dazu reine Pornografie, zum Teil mit ihm selbst als Akteur, in einem Buch wie „Kibosh“ publiziert. Dabei ist das, was in „Kibosh“ zu sehen ist grottenschlecht. Und ich wage zu bezweifeln, dass er in Zukunft wegen seiner Künstlerischen Qualität im Bewusstsein bleiben wird. Ich halte da einen Fotografen wie Nobuyoshi Araki für sehr viel interessanter. Klar, auch Araki macht viele banale pornografische Aufnahmen, aber sein Spektrum ist doch wesentlich vielschichtiger. „Tokyo Lucky Hole“ beispielsweise geht über das Pornografische und Narzisstische hinaus – Araki zeigt sich darin ja auch selbst als teilnehmenden Akteur – weil es eine konsequente fotografische Dokumentation eines berühmten Rotlichtviertels in Tokyo ist. Auch etliche seiner Bondagefotos haben eine klare ästhetische Qualität und reichen über den bloßen Skandal und die reine Pornografie weit hinaus. Ich habe beispielsweise die Ausstellung „Kinbaku“ in der Jablonka Galerie 2008 in Berlin noch in guter Erinnerung.
Klaus Honnef: Womöglich haben sie recht. Ich ziehe ebenfalls Araki vor. Er scheint ernsthafter und obsessiver zu sein. Richardson schielt mit einem Auge – nach meiner Ansicht – immer auf die Betrachter. Er will seine Bilder stets verkaufen, und da schreckt er offenbar vor nichts zurück. Andererseits ist sein Vorgehen symptomatisch für unsere auf Verkauf und Konsum versessene Gesellschaft. Als Dokumente einer primär konsumorientierten Einstellung sind seine Bilder außerordentlich signifikant. Wenn auch nicht mein Ding. Aber an diesem Beispiel lässt sich leicht illustrieren, wie unsere ästhetischen Urteilskategorien durch ästhetische Praxis ihre Griffigkeit eingebüßt haben. Niemand würde Richardsons Bilder unter dem Begriff “Dokumentarfotografie” subsumieren. Dabei besteht kein Zweifel, dass sie “dokumentarisch” sind, weil sie das Inszenierte als Inszenierung sichtbar machen und nicht so tun als ob. Deshalb bin ich auch mit einer Bewertung vorsichtiger als Sie. Sie mögen von einem bestimmten ästhetischen Gesichtspunkt “grottenschlecht” sein. Gleichwohl waren “Bad Paintings” Ende des 20. Jahrhunderts ein wichtiger Beitrag der zeitgenössischen Malerei zur Bildkunst, weil sie mit herkömmlichen Konventionen brachen. Ich bereite gegenwärtig eine Rede über Andy Warhols Fotografien für eine Galerie in Zürich vor. Über den Künstler habe ich schon 1989 eine Monografie veröffentlicht, die in über zehn Sprachen übersetzt wurde und bisher x-Auflagen erreicht hat. Nicht von ungefähr. Denn ich habe beschrieben und analysiert, wie seine künstlerische Haltung und sein Werk die Maßstäbe der Kunst – Fotografie und Film eingeschlossen – regelrecht umgestürzt haben. Seither müssen wir unsere Maßstäbe auch in Sachen Aktfotografie völlig neu justieren. Und in puncto dieser Bestrebungen stehen wir noch ganz am Anfang.
Jens Pepper: Ja, da mag ich nun meinerseits etwas zu voreilig und impulsiv in meiner abschließenden Bewertung sein. Ich lasse mich da mal überraschen. Dass Sie jetzt über die Fotografie von Warhol reden werden, finde ich ja interessant. Ich hatte Ende der 1990 Jahre in der Hamburger Kunsthalle eine Ausstellung über alle Aspekte der Fotografie in Warhols Gesamtwerk gesehen und war seinerzeit sehr beeindruckt. Welche Bedeutung hat die Warholsche Fotografie in Ihren Augen für die Gegenwart? Gehen von ihr noch wichtige Impulse aus?
Klaus Honnef: Warhol hat die Kunst wie kein anderer Künstler der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verändert. Er hat ihre Parameter geradezu umgepolt. Man kann die Kunst der letzten Jahrzehnte in eine Kunst vor und eine nach Warhol einteilen. Seither sind ästhetische Kriterien wie “gut gemacht” oder “gut gemalt” hinfällig, haben den gleichen Rang wie das inhaltsleere “gefällt mir” bei FB, haben als ästhetische Maßstäbe ausgedient. Warhol Impulse sind mit anderen Worten längst wirksam.
Jens Pepper: Unter anderem hat Warhol sich intensiv mit dem nackten, erotischen männlichen Körper auseinandergesetzt, auch ganz explizit mit dem männlichen Geschlechtsteil und dem Sexualakt, den er fotografiert und als Silkscreen veröffentlicht hat. Für Warhol war die Fotografie aber vor allem Ausgangspunkt für seine kommerziellen Portraits und für seine freien Arbeiten; die eigentlichen Werke waren dann die Bilder und Siebdrucke. Später hat er dann Berühmtheiten für seine Zeitschrift Interview fotografiert. Für mich sind es gerade die Fotografien Warhols, die in ihrer Authentizität und ihrem Materialcharakter noch heute betören.
Klaus Honnef: Nachdem er die Madison Avenue und damit eine erfolgreiche Karriere als Designer aufgegeben hatte, um „freier“ Künstler zu werden, unterschied Andy Warhol nie zwischen freier und Auftrags-Kunst. Ebenso wenig wie zwischen Fotografie, Malerei (meist ja Siebdruck), Skulptur, Film, Zeitschrift, zwischen malen, fotografieren, filmen, drucken, schreiben oder sammeln. “All is pretty”, einer seiner vielen inflationär zitierten Sätze, fasst seine Haltung präzis zusammen und bezieht sich nicht auf Äußerlichkeiten. Entsprechend gleich-gültig waren ihm die Motive seiner ästhetischen Bearbeitungen. Mit ihm ist in der zeitgenössischen Kunst an Stelle des bürgerlichen Kunstgenies der coole Beobachter, Kommentator, Macher, Organisator (eher eine Haltung, die in der Fotografie zählt) getreten. Auch nicht mehr im Einzelbild äußert sich seither die Essenz des künstlerischen Wollens, sondern in der Bildserie, der Bildreihe. Warhols entscheidender Beitrag zur Kunstgeschichte ist, dass er den künstlichen Charakter der Kunst ernst genommen hat. So war Marilyn Monroe nie eine individuelle Person, sondern ein Geschöpf Hollywoods und als „Sexsymbol“ ein Produkt millionenfacher (meist männlicher) Phantasie. Daran ist Norma Jean Baker zerbrochen. Indem Warhol sie zur Ikone erhob – zu ihren Lebzeiten gab es höher bezahlte weibliche Stars und berühmtere – hat er ihr gleichsam ein Stück Lebendigkeit zurückgegeben – um den Preis des Lebens allerdings.
Jens Pepper: Der männliche Akt ist in der öffentlichen Wahrnehmung nicht so verbreitet, obwohl er natürlich genau so existiert wie der weibliche. Im künstlerischen Bereich waren es seit den 1960er Jahren unter anderem Robert Mapplethorpe, Arthur Tress, Duane Michals, Herb Ritts, Peter Hujar und ein paar andere, die hier neue Akzente gesetzt haben. Gibt es in ihren Augen eine unterschiedliche Entwicklung zwischen männlichem und weiblichem Akt? Also in den vergangenen Jahrzehnten.
Klaus Honnef: Schwierige Frage. Ich sehe Unterschiede, bin aber ein Mann. Die männlichen Akte, die ich kenne und die vor allem von den Fotografen stammen, die Sie nennen, sind direkter, fordernder und vielleicht (????!!) weniger voyeuristisch als die weiblichen Akte, die Männer fotografiert haben. Vermutlich nur in einem anderen Sinne anziehend und verführerisch. Würde man jedoch ein Auto, das vorwiegend auf weibliche Käuferschicht zielt, mit einem halbausgezogenen Mann bewerben? Andererseits kenne ich von Fotografinnen fotografierte weibliche Akte, die sexuell herausfordernder, appellativer und abgründiger sind als die meisten von Fotografen fotografierten Akte. Ich kann die Frage also nicht mit einem klaren Ja oder Nein beantworten.
Das Gespräch wurde im Frühjahr 2013 geführt und Anfang 2014 in der Zeitschrift Brennpunkt veröffentlicht.
Klaus Honnef ist Kunst- und Fotohistoriker. Er war von 1974 bis 1999 Ausstellungschef des Rheinischen Landesmuseums in Bonn, wo er 1987 die erste museale Einzelausstellung Helmut Newtons in Deutschland ausgerichtet hat. Derzeit arbeitet er als freier Ausstellungsmacher und Autor, u.a. für Eikon, Photonews und die Kunstzeitung. Seit 2002 ist er zudem Vorsitzender der „Gesellschaft Photo Archiv e.V.“ in Bonn. Eine Liste der von ihm verfassten Bücher und Ausstellungskataloge ist auf seiner Homepage zu finden. www.klaushonnef.de