„Die Digitaltechnik führt zu einer erheblichen Dynamisierung in der Stadt- und Straßenfotografie“ – Ein Gespräch mit dem Galeristen Manfred Carpentier

Foto: Holger Biermann (aus: Terassen am Zoo)

Foto: Holger Biermann (aus: Terassen am Zoo)

 

Jens Pepper: Seit dem Frühjahr widmest du dich in deiner Galerie der Berliner Stadt- und Straßenfotografie seit 1989, also seit dem Fall der Mauer. In insgesamt acht Ausstellungen mit je vier fotografischen Positionen zeigst du damit so etwas wie eine kleine Geschichte dieses Sujets für diesen Zeitraum. 2015 soll das Projekt dann mit einer Publikation abgeschlossen werden. Was hat dich zu dieser Ausstellungsreihe veranlasst?

Manfred Carpentier: Pepper! Was für eine Frage! (lacht). Die kurze Antwort lautet: Veranlasst hat mich mein Interesse am Thema. Die längere – allerdings kaum erschöpfende – Antwort lautet: Die Ausstellungsserie zum Thema „Stadt- und Straßenfotografie in Berlin“ startete im Frühjahr 2014 nach mehr als einem Jahr intensiver Vorbereitungszeit. Über 160 Fotografinnen und Fotografen wurden um die Einreichung ihrer Arbeiten gebeten. Eine Jury, der neben Ursula Kelm, Boris von Brauchitsch, Marc Barbey und Peter Fischer-Piel auch ich angehörte, wählte aus den Einreichungen 32 Arbeiten aus. Kriterium für eine Auswahl war neben der formalen und inhaltlichen Qualität der Arbeit ihre zeitliche Aktualität. Dabei war mit der zeitlichen Vorgabe „seit dem Fall der Mauer“ keine Jahreszahl gemeint, sondern eher der historische Impuls für eine umfassende Veränderung des Stadtbildes von Berlin und der soziokulturellen Präsenz der in ihr lebenden und agierenden Menschen. Das Medium Fotografie ist ja bestens geeignet, mit sowohl dokumentarischen als auch mit künstlerischen Mitteln solche „Zustandsbeschreibungen“ abzugeben oder besser: sie „einzufangen“. Neben meinem Interesse am Thema veranlasste mich der Gedanke, nicht nur eine einzelne Sicht oder Position zu zeigen, sondern die urbane Verschiedenartigkeit mit der Verschiedenartigkeit der fotografischen Sichtweisen zu parallelisieren. Schon jetzt – quasi zur Halbzeit der Ausstellungsserie – kann man behaupten, dass diese Idee trägt und funktioniert. Da liegt der Gedanke einer alle Positionen nebeneinander stellenden Publikation doch recht nahe, zumal wenn es gelingen sollte, ein Haus zu finden, in dem alle Arbeiten gleichzeitig gezeigt werden können. Einen Abschluss sollen diese Aktivitäten allerdings nicht bilden, sondern eher die Fortschreibung eines fortlaufenden Projektes.

 

Foto: Andreas Muhs (aus: Schöne Stadt)

Foto: Andreas Muhs (aus: Schöne Stadt)

 

Jens Pepper: Du planst also auch eine Gesamtausstellung der von dir in der Carpentier Galerie gezeigten Arbeiten in einem Museum oder einem Kunstverein? Soll sich diese Ausstellung nur auf die von Dir bereits vorgestellten Fotografen beschränken oder kannst Du Dir vorstellen diese noch um weitere Fotografen oder gar um historische Aspekte der Berliner Straßenfotografie zu erweitern?

Manfred Carpentier: Ich sitze da zur Zeit noch an der Erarbeitung eines tragfähigen Konzeptes. Die geplante Ausstellung aller Arbeiten in einem Haus und die Publikation betrachte ich als Gesamtheit. Es wird darum gehen, einen Ausstellungsort und einen Verleger zu finden sowie Autoren zu gewinnen, die sich nicht nur mit den fotografischen Arbeiten dieser Ausstellung auseinandersetzen, sondern das Thema Stadt- und Straßenfotografie in Berlin in einen historischen und aktuellen Kontext stellen. Aber auch die Wiederbelebung Berlins zur Metropole sollte nicht nur fotografisch, sondern auch essayistisch abgebildet werden. Weitere aktuelle fotografische Positionen, die nicht älter als zehn Jahre sind, in der Ausstellung zu zeigen und in die Publikation aufzunehmen, halte ich für denkbar.

Jens Pepper: Als ihr, also Du und die anderen Mitglieder der Jury, die eingereichten Fotografien gesichtet habt – es waren ja Arbeiten von eingeladenen als auch von sich selbständig bewerbenden Fotografen dabei -, ist euch da so etwas wie ein Trend aufgefallen, eine Art von zeitgeistiger Straßenfotografie? Oder habt ihr es ausschließlich mit individuellen Blicken zu tun gehabt, aus denen ihr dann die interessantesten ausgewählt habt?

 

Foto: Henrik Vering (aus: die Stadt und die Beute)

Foto: Henrik Vering (aus: die Stadt und die Beute)

 

Manfred Carpentier: Das ist eine interessante Frage, die ich mir auch schon gestellt habe. Im Grunde kreist diese Frage um den zentralen Punkt der Ausstellungsserie. Ich bin kein Fotohistoriker, der eine entsprechend fachlich kompetente Antwort geben könnte. Auch für die anderen Jurymitglieder kann ich nicht sprechen. Ich beantworte diese Frage also aus meiner ganz persönlichen, unverbildeten Sicht. Erst einmal haben wir in den letzten Jahren in der Fotografie einen enormen Technologiewandel erlebt. Die Etablierung der Digitalfotografie dürfte im Bereich der Stadt- und Straßenfotografie ähnliche Auswirkungen haben, wie die Einführung der Kleinbild-Leica vor genau einhundert Jahren. Nicht nur die damalige künstlerische und journalistisch-dokumentarische Avantgarde hat sich durch Handhabbarkeit der technischen Ausstattung inspirieren lassen. Fotografie wurde nun – und das ist vielleicht der entscheidende Aspekt – ein „demokratischeres“ Medium, dessen Einsatz einer wesentlich größeren Anzahl von Interessierten möglich war. Die Folge war eine Verbreiterung und Differenzierung der fotografischen Gattungen und Sujets, ihrer theoretischen Durchdringung sowie der Entstehung von fotografischen Strömungen und Schulen. Die Digitalfotografie führt nun erneut zu einer erheblichen Dynamisierung auch im Bereich der Stadt- und Straßenfotografie sowohl in der Bildfindung und -sprache, als auch in den Präsentationsformen der Fotografie. Zugleich ist bei den Fotografen eine starke Differenzierung und Individualisierung feststellbar, die eher eine Entfernung von traditionellen Strömungen zum Ausdruck bringt. Um also auf die Frage zurück zu kommen. Eine Art zeitgeistige Straßenfotografie habe ich in den eingereichten Arbeiten der Fotografinnen und Fotografen nicht entdecken können. Entdecken kann man jetzt in der Ausstellungsserie eine große Vielfalt in der fotografischen Auseinandersetzung mit der Stadt Berlin. Sie reicht von der künstlerischen bis zur dokumentarischen, von der konzeptionellen bis zur augenblicksorientierten, von der narrativen bis zur abstrakt ästhetischen Fotografie. Das Wunderbare an der Stadt- und Straßenfotografie ist ja, dass bei entsprechendem zeitlichen Abstand die Bilder zu zeithistorischen Dokumenten werden, die auch immer ein stückweit den Zeitgeist transportieren und überliefern. Es wäre ein großes Kompliment, wenn in 20 oder 30 Jahren jemand in den einzelnen Positionen dieser Ausstellungsserie die Ansätze einer zeitgeistigen Fotografie zu Beginn des 21. Jahrhunderts wiederfände, wenn wir darunter zeitgemäße Form, Technik, Stil und Strömung verstehen.

 

Foto: Oliver Scholten (aus: Splash)

Foto: Oliver Scholten (aus: Splash)

 

Jens Pepper: Bei der Auswahl der letztendlich an dem Ausstellungszyklus beteiligten Fotografen, war sich die Jury schnell darüber einig, welche der eingereichten Positionen in der Galerie präsentiert werden sollten?

Manfred Carpentier: Na ja, das war ja kein Abstimmungsprozess, so wie man sich das vielleicht vorstellt: Da sitzt eine Gruppe von Menschen über einem riesigen Stapel mit Fotografien und diskutiert nächtelang bei ordentlich Wein und Nikotin. So viel Zeit hat ja heute kein Mensch mehr. Nein. Die Einreichungen der Fotografinnen und Fotografen erfolgten digital per Online-Formular, die Jurymitglieder erhielten die aufbereiteten Dokumente und bewerteten die eingereichten Arbeiten im Rahmen eines Punktesystems. Die Entscheidung, welche Positionen in der Galerie präsentiert werden sollten, erfolgte einfach durch die Addition der vergebenen Punkte. Wichtig für eine ausgewogene Entscheidung war mir vor allen Dingen im Vorfeld die Zusammensetzung der Jury mit ausgewiesenen Fachleuten. So unspektakulär die Entscheidungsfindung vielleicht gewesen sein mag, so spannend war die eher kuratorische Arbeit, jeweils vier Positionen zu einer Ausstellung zusammenzufügen. Bei dieser Arbeit hat mich das Jurymitglied Peter Fischer-Piel maßgeblich unterstützt. Ihn konnte ich auch für das Vorwort eines kleinen Katalogs und für die Eröffnungsrede der Ausstellungsserie gewinnen. Das alles kann auf der Webseite der Galerie unter der Adresse www.carpentier-galerie.de eingesehen werden.

 

Foto: Silvia Sinha (aus: Brandmauern)

Foto: Silvia Sinha (aus: Brandmauern)

 

Jens Pepper: Wie sind denn die acht Ausstellungen jeweils konzipiert?

Manfred Carpentier: Hier will ich aus verständlichen Gründen nicht allzu sehr ins Detail gehen. Aber erst einmal ging es darum, innerhalb der Ausstellungsserie einen bestimmten Rhythmus zu finden. Einen Auftakt, ein Ende, und es gab ja mit einer Ausstellung im Rahmen des Monats der Fotografie einen Termin mit der sicherlich stärksten Resonanz in den verschiedenen Medien. Dem galt es Rechnung zu tragen. Es wurde also erst einmal ein „äußerer“ Rahmen abgesteckt. Innerhalb dieses Rahmens, also bei der Konzeption der einzelnen Ausstellungen, wurde angestrebt, die Verschiedenartigkeit der Positionen in ihrer thematischen wie formalen Ausprägung deutlich werden zu lassen. Nehmen wir doch einmal als Beispiel die Arbeiten, die während des Monats der Fotografie gezeigt werden. Silva Sinha dokumentiert in ihrer Farbserie „Brandmauern“ nicht vordergründig die Architektur Berlins, sondern zeigt uns in eher grafisch-malerischen Erscheinungsbildern ihre Eigenästhetik. Stephanie Steinkopf – in ihrer Konzeptualität am weitesten von der klassischen Stadt- und Straßenfotografie entfernt – fügt in einem Veränderungen unterworfenen städtischen Raum fotografische Porträts mit biographischen Anekdoten sowie textlichen Informationen zu einem Ganzen zusammen. Eric-Jan Ouwerkerk ist ein Vertreter der klassischen Straßenfotografie, ein Beobachter und Geschichtenerzähler, der uns in seinen „Short Stories“ kleine Skurrilitäten und poetische Momente aus dem Alltag der Metropole erzählt. Frank Silberbach wiederum hat in seinem 2004 begonnenen Langzeitprojekt BERLIN 140° die klassisch-dokumentarische Schwarzweiss-Fotografie durch den Gebrauch der Optik einer Panoramakamera erweitert. Ich glaube, an diesem Beispiel wird die Verschiedenartigkeit der fotografischen Positionen deutlich, die in der Ausstellung selber noch einmal durch die Unterschiedlichkeit der formalen Präsentation der Fotografien unterstrichen wird. Wenn es gelungen ist, in den einzelnen Ausstellungen diese Vielfalt, aber auch ihre Gleichberechtigung zu zeigen, darf man darauf hoffen, dass einmal von einer erfolgreich kuratorisch konzipierten Ausstellungsserie die Rede sein wird.

 

Foto: Frank Machalowski (aus: Mulitexpo)

Foto: Frank Machalowski (aus: Mulitexpo)

 

Jens Pepper: Gibt es Fotografen, die einen für dich völlig unerwarteten Blick auf Berlin dokumentiert haben?

Manfred Carpentier: Ich glaube, dass ist eine Frage, die sich so weder stellen noch beantworten lässt. Was ist mit einem „unerwarteten Blick“ denn gemeint? Eine bisher inhaltlich oder formal noch nie da gewesene Sichtweise auf die Stadt und ihre belebte und unbelebte Natur oder ein phänomenales Thema? Ich könnte eine Frage beantworten, die dahin geht, welche Positionen ich formal, inhaltlich und ästhetisch am interessantesten finde. Das will ich aber erst tun, wenn die Ausstellungsserie abgeschlossen ist und ich alle Exponate in ihrem kontextuellen Zusammenhang und als Originale gesehen habe. Im Augenblick – und da wiederhole ich mich gerne – ist für mich die Verschiedenartigkeit der Sichtweisen innerhalb der Ausstellungsserie von größerer Bedeutung als ein einzelner Blick, eine einzelne Sicht oder Position.

 

Foto: Maximilian Meisse (aus: Ready Places Berlin 2000-2013)

Foto: Maximilian Meisse (aus: Ready Places Berlin 2000-2013)

 

Jens Pepper: Gibt es Fotografen, die ihr gerne dabei gehabt hättet, die aber – aus welchem Grund auch immer – nicht im Rahmen dieser Ausstellungsserie in deiner Galerie zu sehen sein werden? Fotografen, die dann vielleicht in der geplanten institutionellen Präsentation dabei sein sollen?

Manfred Carpentier: Ja, natürlich. Bei einigen Fotografinnen und Fotografen habe ich sehr bedauert, dass sie gar nicht an der Ausschreibung teilgenommen haben, obwohl sie eingeladen worden waren. Ohne Namen zu nennen betraf dass kurioserweise zum einen die etwas älteren Fotografinnen und Fotografen, die sich teilweise mit dem doch sehr technischen Einreichungsverfahren nicht haben anfreunden können. Zum anderen betraf es aber auch jüngere Fotografinnen und Fotografen, deren bevorzugte Präsentationsform gar nicht mehr der traditionelle Print an der Wand ist, sondern die ihre Arbeiten fast ausschließlich im Netz zeigen. Nicht zuletzt wurden – aus welchen Gründen auch immer – interessante Positionen mit den dahinter stehen Fotografinnen und Fotografen gar nicht eingeladen oder wahrgenommen. Das zeigt ja auch, wie erfreulich groß die Anzahl derer geworden ist, die sich ernsthaft dem Thema Stadt- und Straßenfotografie in Berlin widmen. Die geplante institutionelle Präsentation wäre eine schöne Gelegenheit, das bisher schon breite Spektrum an Arbeiten zu erweitern, genau so wie das die geplante Publikation leisten könnte und auch sollte.

Jens Pepper: Am 23. November wirst du in der Galerie einen Buchmarkt veranstalten, auf dem aktuelle und antiquarische Bücher über die Berliner Stadt- und Straßenfotografie zum Verkauf angeboten werden. Wie kam es zu dieser Idee?

Manfred Carpentier: Erst einmal sind es fast ausschließlich aktuelle Verlagsproduktionen, die im Rahmen von „Berlin Photo Book“, dem 1. Berliner Büchermarkt zur Stadtfotografie zum Verkauf angeboten werden. Es werden aber auch Fotobücher erhältlich sein, die im Selbstverlag erschienen sind und teilweise im Rahmen von Publishing on Demand produziert werden. Das Wesentliche an dieser Veranstaltung soll sein, allen am Thema „Berliner Stadt- und Straßenfotografie“ Interessierten Gelegenheit zu geben, persönlich mit den Fotografen ins Gespräch zu kommen, sich auszutauschen und ein signiertes Buchexemplar erwerben zu können. Natürlich steht auch der Gedanke dahinter, den Fotografen die Möglichkeit zu geben, ihre Bücher zu bewerben und bei Verkauf einen größeren Anteil der Einnahmen zu erhalten, als das gemeinhin bei Verkäufen über den Buchhandel üblich und möglich ist.

Die Idee zu „Berlin Photo Book“ kam im übrigen von den Fotografen selbst. Als Initiatoren sind insbesondere Frank Silberbach und André Kirchner zu nennen. Die Galerie stellt lediglich ihre Räume für diese Veranstaltung zur Verfügung.

Ich sehe in dieser Veranstaltung eine erste Initiative, die den Kerngedanken des Ausstellungsprojektes der Galerie weiterträgt. Nämlich keine singuläres und abgeschlossenes Ereignis zu sein, sondern ein sich entwickelndes Forum für all diejenigen, die mit ihren fotografischen Arbeiten zum Entstehen eines Gedächtnisses dieser wunderbaren Stadt Berlin für die nachfolgenden Generationen beitragen.

Manfred Carpentier

Manfred Carpentier wurde 1954 in Gerolstein / Eifel geboren, wuchs in Leverkusen auf und lebt seit 1975 in Berlin. 2010 gründete er in Berlin-Wilmersdorf eine Privatgalerie. Unter dem Titel „Berlin Photography“ führt die Carpentier Galerie 2014/2015 eine Ausstellungsreihe zur aktuellen fotografischen Auseinandersetzung von Fotografinnen und Fotografen mit der Stadt Berlin durch. Carpentier ist Herausgeber einer Edition von Fotokünstlerbüchern und Publikationen anderer Verlage. Er ist auch als Autor und Fotograf tätig.

www.carpentier-galerie.de
www.berlin-photography.de
www.edition-carpentier.de