„Die, die nach uns kommen, werden sehen wollen, wie es bei uns ausgesehen hat.“ – Frank Silberbach im Gespräch mit Christian Reister

Berlin 140°

Dieses Interview wurde im Mai 2012 geführt. Mittlerweile sind Frank Siblerbachs Panoramaaufnahmen aus Berlin bei BRAUS in Buchform erschienen.

Christian Reister: Straßenfotografie mit der Panoramakamera – wie kommt man auf so eine Idee?

Frank Silberbach: Ich habe 1996 ein Projekt in einem Dorf in China gemacht. Da habe ich „normal“ mit einer Leica und einem 35er Objektiv gearbeitet. Ich war dort für zwei Monate und als ich vorübergehend zurückkam, dachte ich mir, ich mache einfach mal ein zusammengesetztes Panorama, um zuhause zu zeigen, wie diese Dorfstraße hier aussieht. Das kam auf einem einzelnen Bild einfach nicht so gut rüber.

So habe ich also ganz einfach und analog vier separat belichtete Bilder aneinander gesetzt. Da sah ich, dass z.B. ein Passant vom einen Bild ins andere gelaufen war. Er war also doppelt drauf. Dann dachte ich: nun, diese Zeit, die zwischen den einzelnen Bildern vergeht, die kann man ja bewusst nutzen: ich merke mir ungefähr die Anschnittstellen zwischen den Bildern und gucke, was in den einzelnen Segmenten passiert. Für jedes Segment habe ich dann auf einen Höhepunkt des Geschehens gewartet, quasi auf den entscheidenden Augenblick. Zusammengesetzt gab es dann plötzliche mehrere entscheidende Augenblicke auf einem Bild. Davon ausgehend wollte ich herausfinden, ob es das auch in der Wirklichkeit gibt. So bin ich zu meiner Schwinglinsenkamera gekommen. Bis jetzt ist es so, dass ich mir nicht mehr vorstellen kann, Straßenfotografie mit einer Kamera mit feststehender Optik zu machen.

Mengwang China 1997

Mengwang China 1997

Erste Panoramen: manuell zusammgesetzte Einzelbilder aus Mengwang, China

 

 

Christian Reister: Mit deinen Panoramafotos hattest du über Jahre eine eigene Kolumne im Magazin der Berliner Zeitung. Wie kam es dazu?

Frank Silberbach: Bei der Berliner Zeitung war Ende 2004 kurzfristig der Autor für eine Textkolumne ausgefallen und da hat mich ein befreundeter Bildredakteur angerufen und gefragt, ob ich mit meiner Panoramakamera Straßenfotografie für eine eigene Bildkolumne machen wolle. Das sollte zunächst für acht Wochen laufen, dann wurde es aber mehrmals verlängert bis es schließlich über vier Jahre wurden. Jede Woche ein Bild, das war ein gutes Training und manchmal ganz schön anstrengend.

Denn je länger die Sache lief, desto mehr hatte ich den Ehrgeiz entwickelt, dass das jetzt richtig gut werden muss. Am Anfang war es „nur“ ein Job, der mir zwar sehr nahe war, aber mit der Zeit habe ich es mir immer schwerer gemacht, indem ich die Meßlatte für mich deutlich höher gelegt habe. Gemessen am Honorar war der Aufwand meist ziemlich hoch, um jede Woche ein gutes Bild abzuliefern. Aber ich habe es geschafft, in all den Jahren nicht einen Ausfall zu liefern und manchmal hatte ich auch Zeiten, in denen ich drei oder vier Bilder im Vorlauf war.

Christian Reister: Gab es inhaltliche oder formale Vorgaben für die Kolumne?

Frank Silberbach: Die Proportionen des gedruckten Bilds waren noch extremer als die meiner Kamera: 4:1. Du musstest eigentlich immer einen Schritt zurücktreten, was du als Fotograf ja ungern machst. Bestimmte Bilder, wie zum Beispiel das vor der Oper (siehe Abbildung oben), das später entstanden ist, wären nicht gegangen. Zu nahm dran, da kann man nichts mehr abschneiden. Während der, der in der Friedrichstraße im Regen steht (siehe Abbildung unten) und die Arme ausbreitet, gut oben und unten beschnitten werden konnte. Manchmal war das eine ungeheure Zirkelei, das gerade noch so hinzukriegen, dass es zu beschneiden geht. Das sah nicht immer so schön aus und war eigentlich immer ein Kompromiss.

Inhaltlich aber gab es keine Einschränkungen. Es gab niemand, der gesagt hätte „Geh dahin“ oder „Mach das nicht“. Man kannte sich auch schon ziemlich lange. Wenn ich mit meinen Kontaktbögen ankam, hatte ich schon immer markiert, was ich ausgewählt hatte, manchmal auch ein, zwei Alternativen, da waren wir uns immer sehr schnell einig. Das war sehr schön, ich konnte wirklich machen was ich wollte.

Christian Reister: Hat sich mal jemand bei der Zeitung gemeldet, der sich auf deinen Fotos erkannt hat?

Frank Silberbach: Auf die Kolumne gab es eine sehr positive und breite Resonanz, aber die ganze Zeit hinweg hat sich nie jemand gemeldet, der sich erkannt hätte oder sich gar beschweren wollte. Und die Berliner Zeitung ist immerhin die größte Abonnement-Zeitung Berlins. Es war eher andersrum: wenn mich auf der Straße jemand gefragt hat, was ich denn da für eine Kamera habe, habe ich, um nicht so viel erklären zu müssen, immer gefragt, ob er/sie Berliner-Zeitungs-Leser ist. Da waren die Reaktionen dann immer sehr positiv – „Ach, Sie sind das!“, „Das schauen wir uns immer gerne an.“ Niemals hat mich jemand gefragt „Dürfen Sie das überhaupt?“.

Es herrscht ja bei manchen mittlerweile die Vorstellung, dass es so gut wie verboten sei, auf der Straße zu fotografieren und moralisch zumindest zweifelhaft. Das ist erstens falsch und zweitens dumm. Denn diese Ansicht übersieht, dass die, die mal nach uns kommen, sehen werden wollen wie es bei uns ausgesehen hat. So wie wir heute gerne die Bilder von Zille und Seidenstücker anschauen, um zu sehen, wie es damals ausgesehen hat. Die direkte Anschauung ginge verloren, wenn diese Art der Fotografie verboten wäre. Drauf kommen manche gar nicht, die so sehr auf ihr Recht am eigenen Bild beharren. Oder auf dem ihres Dackels.

Berlin 140°

 

Berlin 140°

Berlin 140°

Christian Reister: Du arbeitetst seit 2004 an „Berlin 140°“ – es ist jetzt eine sehr umfangreiche Arbeit und da wurde sicher Unmengen an Material verbraucht…

Frank Silberbach: Ja. Es gibt zwei Auswahlen: 213 wurden in der Berliner Zeitung gedruckt. Danach, seit 2009, habe ich im eigenen Auftrag weitergemacht. Die A-Auswahl, die in Ausstellungen gezeigt wird, sind knapp über 70. Dafür habe ich über 1000 Filme belichtet, 21 Bilder passen auf einen Film. Also 21.000 Bilder für die A-Auswahl von knapp über 70.

Christian Reister: Das ist eine gute Anzahl für ein Buch. Gibt es dahingehend Pläne?

Frank Silberbach: Nun, ich habe bisher schlicht und ergreifend keinen Verleger davon überzeugen können, das zu produzieren. Der Großteil der Fotobücher, die auch bei den großen Verlagen gemacht werden, werden ja zum Großteil aus Mittel von dritten finanziert oder von den Fotografen selbst. Die großen Verlage sind zunehmend Dienstleister und keine Verlage mehr. Sie bieten die Herstellung und den Vertrieb an, allerdings gegen Gebühr. 20.000 Euro ist eine gängige Größenordnung. Das bin ich nicht bereit zu zahlen.

Das ist auf der einen Seite ein bisschen traurig, auf der anderen Seite bin ich aber auch ganz zufrieden mit meiner Projektwebsite. Aus mehreren Gründen: zum einen erreiche ich ganz klar mehr Menschen als mit einem Buch. Ich habe dort die ganze Serie zusammen und kann sie auch um neue Arbeiten ergänzen, während ein Buch ja ein Endprodukt ist. Die Website ist prozessorientiert und dynamisch. Da ich an den Panoramen stetig weiterarbeite, ist das eigentlich die bessere Form der Präsentation. Und es ist auch nicht so, dass die Website ein vielleicht doch noch kommendes Buch überflüssig machen würde.

Christian Reister: Es gibt eine Vortrag von dir mit dem Titel „Straßenfotografie in Berlin“, den du schon zweimal gehalten kannst und der am 12.6. in der Galerie Tempelhof wieder hältst. Wie kam es dazu?

Frank Silberbach: Wir haben mal eine Einladungskarte zu einer Ausstellung gemacht und wollten noch eine zusätzliche Veranstaltung drauf schreiben. So wie man das heute so macht – ein Künstlergespräch, einen Rundgang oder so was. Schließlich wurde daraus ein „Vortrag“ – so stand es dann jedenfalls auf der Karte. Ich habe mir das erst etwas salopper vorgestellt, dann kamen aber immer wieder Menschen auf mich zu, die mich gezielt auf den kommenden Vortrag angesprochen haben. Dann dachte ich irgendwann, dass das vielleicht doch etwas substantieller werden sollte. Die Fotografen und das Thema waren mir natürlich gut vertraut, ich wollte mich aber nicht drauf verlassen, das so aus dem Stegreif zu machen. Jetzt erweist sich das als sehr positiv, da ich ihn immer wieder halten kann.

Christian Reister: Die Geschichte der Straßenfotografie in Berlin wird in deinem Vortrag anhand von Heinrich Zille, Friedrich Seidenstücker, Fritz Eschen, Bernd Heyden und Frank Silberbach erzählt…

Frank Silberbach: …ja, und das sind noch nicht mal die prominentesten. Es gab ja noch viel mehr – Arno Fischer, Sibylle Bergemann, Will McBride, Rudi Meisel, Harald Hauswald. Die Zahl derer, die in Berlin auf der Straße fotografiert haben, ist sehr groß… Ich habe einfach die ausgewählt, die mir ganz persönlich am nächsten sind. Ich mag zum Beispiel an Hyden, dass er so unheimlich unspektakulär und auch unspekulativ ist. Ich wollte nicht 150 Fotografien von 150 Fotografen zeigen, sondern lieber auf wenige genauer eingehen.

Christian Reister: Es fällt auf, dass unter denen die du gerade aufgezählt hast, Harald Hauswald wahrscheinlich der jüngste ist, die meisten anderen sind schon tot. Gibt es auch Fotografen, die jünger sind als du, die du mit ähnlichem Interesse verfolgst?

Frank Silberbach: Ich verfolge genauso auch jüngere Fotografen, ich war ja z.B. auch bei eurer Vernissage in Berlin (gemeint ist die Gruppenausstellung „Fascination Street“ im Kunsthaus Meinblau, Anmerkung der Red.). Dass die Fotografen im Vortrag alle schon älter sind, kann damit zusammenhängen, dass es von denen was gedrucktes gibt. Die kenne ich quasi aus dem FF, die begleiten mich schon eine sehr lange Zeit, da ich deren Bücher immer wieder anschaue und die sind immer noch frisch.

Christian Reister: Gibt es neben der Berlin 140° Serie Arbeiten, die du ähnlich konsequent betreibst?

Frank Silberbach: Im Moment nicht. Noch ein Projekt in dieser Größenordnung ginge auch gar nicht.

Ich habe kurz vor meiner Ausreise aus der DDR in den Achtzigern schon mal ein Straßenprojekt in Ost-Berlin gemacht. Über eine sehr lange Zeit, mindestens 15 Jahre, habe ich dann aber in Berlin überhaupt nicht fotografiert. Die Voraussetzung, überhaupt Lust zum Fotografieren zu bekommen, war, Berlin zu verlassen. Das war meine Reisezeit. Da war ich so ziemlich überall. Russland, China, Indien, Afrika, USA, Südamerika, Australien… Diese Bilder habe ich mal unter dem Titel „Wohin die Reise geht“ zusammengefasst und ausgestellt. Dann gab es das eingangs erwähnte Chinaprojekt, das ein Jahr lang dauerte und dann erst hatte ich wieder Spaß, in Berlin zu fotografieren. Das ist bis jetzt so geblieben und es gibt immer noch sehr viel zu entdecken. Ich bin sehr froh, dass sich das so gefügt hat, auch über die Ausschließlichkeit, nur das zu machen. Das ist organisatorisch, finanziell und logistisch natürlich auch wesentlich machbarer als vier Wochen Australien, von denen du dann mit einem Bild nach hause kommst, das wirklich gut ist.

Christian Reister: Das klingt ein bisschen wie Nachhausekommen. Downsizen und unnötigen Schnickschnack hinter sich lassen….

Frank Silberbach: Ja. Ich habe mit Erschrecken, aber auch mit Schmunzeln und Staunen, festgestellt, dass vor drei Jahren mein Reisepass abgelaufen ist. Ich hatte das tatsächlich vergessen und gar nicht nötig, den zu verlängern. Ich habe damals meine Reisezeit sehr genossen und ich bin sehr froh, dass ich das gemacht habe, aber es hat sich irgendwann erschöpft. Ich glaube auch, wenn das damals mit der wöchentlichen Berlin-Kolumne nicht gekommen wäre, wäre ich wahrscheinlich nicht in der Lage gewesen, mich so intensiv mit Berlin einzulassen. Deshalb bin ich sehr froh, dass das so zu mir gelangt ist. Ja, und ich glaube schon, dass das nach den Lehr- und Wanderjahren ein bisschen was mit „Versöhnt-nach-hause-kommen“ zu tun hat.

Berlin 140°

Frank Silberbach

Frank Silberbach wurde 1958 in Zeitz geboren. Der Fotograf lebt und arbeitet in Berlin.
Sein Bildband „Berlin 140°“  ist bei BRAUS erschienen.

Links
Website Frank Silberbach
Interview auf Kwerfeldein

 

 

“Vielleicht sind die Deutschen einfach in anderen Bereichen erfolgreicher.” – Ein Gespräch mit Christian Reister über Street Photography

Christian Reister - Aus der Serie “Alex” (2008 – 2010)

Christian Reister – Aus der Serie “Alex” (2008 – 2010)

 

Jens Pepper: Du hast Dich in Deiner Arbeit als Fotograf vor allem auf die Street Photography konzentriert. Wie hat sich das entwickelt?

Christian Reister: Ich kam zur Fotografie in einer Zeit in der ich sehr stark in meinen Brotjob als Webdesigner eingebunden war. Ende der Neunziger war ich Ende zwanzig und saß quasi Tag und Nacht am Computer. Da haben sich als analoge Gegenbewegung drei Dinge in mein Leben geschlichen: die Lust an langen Spaziergängen, vor allem auch nachts, häufiger eine Reise in irgendeine Stadt und die Fotografie als künstlerisches Ausdrucksmittel. Alles drei passt ja wunderbar zusammen. Letzteres fand am Anfang eher spielerisch mit einer Plastikkamera der Lomografischen Gesellschaft statt. Blende und Belichtungszeit waren mir damals Fremdworte, ich habe einfach geknipst, was mir über den Weg lief. Hauptsache irgendwie bunt, schief und verwackelt. Erst mit der Zeit habe ich dann begonnen, mich ernsthafter mit Fotografie zu beschäftigen. Aus der spaßigen Freizeitbeschäftigung wurde Passion und da ich diese schon immer hauptsächlich auf der Straße betrieben habe, haben mich dann auch bald die Meister dieses Genres am meisten beeindruckt: Frank, Winogrand, Klein, Erwitt… all diese New Yorker Fotografen. Aber auch Martin Parr war für mich damals eine ganz große Entdeckung.

Bis ich mich selbst an Menschen rangetraut habe, hat es einige Zeit gedauert und letztlich habe ich mir das auch alles nicht überlegt sondern habe in erster Linie immer einfach gemacht. Irgendwann wurde der Begriff „Street Photography“ dann wieder populär und ich dachte, super, da kannste dich einreihen, da haste nen Label, das passt schon irgendwie, Erklärung ende. Auch wenn ich mich im Detail wenig für die Definition oder Abgrenzung zu anderen Genres interessiere und ich vieles, was unter „Street Photography“ läuft, gähnend langweilig finde, glaube ich doch, dass in den ungestellten, spontan erfassten Momenten aus dem öffentlichen Leben einen gewisse Urkraft der Fotografie liegt, die mir so unendlich mehr gibt und über unsere Gesellschaft verrät, als die aufwändigsten Inszenierungen. Einfach weil nichts planbar ist und ich am Ende des Tages – wenn es gut läuft – ein Bild mit nach Hause nehme, das mir die Welt ein bisschen anders zeigt, als ich sie bisher gesehen habe.

Jens Pepper: Du hast in London und New York Einheimische fotografiert, aber eher im klassischen Portraitbereich, in Berlin hast Du Dich intensiv mit dem Treiben der Menschen auf dem Alexanderplatz beschäftigt. Sind es bestimmte Städte und dort bestimmte Orte, die Dich vor allem anziehen, oder hast Du Deine Kamera grundsätzlich bei Dir und benutzt sie auch tagtäglich; ist es also eher ein Zufall, dass durch Deine aktuellen Publikationen und Ausstellungen der Eindruck einer sehr gezielten Location-Suche entsteht?

Christian Reister: Nun, es ist schon so, dass ich die Kamera immer dabei habe und laufend am “einsammeln” bin. Eine gezielte Locationsuche gibt es daher eher nicht. Die Projekte entstehen da, wo ich eben bin. Meistens ist das Berlin. New York und London sind Städte, die mir von mehreren Aufenthalten und wahrscheinlich auch von der Mentalität her recht vertraut sind. Die Grundlagen für die angesprochenen Arbeiten sind alle mehr oder weniger spontan auf der Straße entstanden. Wobei die Straßenportraitserien jeweils in drei Tagen fertig waren, ALEX hat mich dann zwei Jahre beschäftigt.

Jens Pepper: Was hat Dich am Alexanderplatz gereizt?

Christian Reister: Seit ich 1997 nach Berlin gekommen bin, bin ich meist mehrmals die Woche am Alex, meist einfach nur um von der einen Bahn in die andere umzusteigen, kurz eine Erledigung zu machen oder sonst wie durchzuhuschen. So wie es alle anderen in aller Regel auch machen. Bemerkenswert an diesem Platz ist ja, dass er allgemein als ziemlich hässlich und unwirtlich wahrgenommen wird. Städtebauliche Maßnahmen haben zumeist zur Folge, dass er danach noch unschöner, grauer und grauseliger daherkommt als vorher. Das sind so Phänomene, die mich staunen lassen. Wie kann das denn eigentlich sein, dass in der Mitte von Berlin-Mitte, die gerne für das trendigste und yuppihafteste gehalten wird, was die Haupststadt zu bieten hat, der größte und bekannteste Platz derart unelegant daherkommt? Mit allerhand Festivitäten wird immer mal wieder versucht, ein wenig Gemütlichkeit auf den Platz zu zaubern. Dann werden die immergleichen Buden notdürftig dem jeweiligen Anlass entsprechend umdekoriert – ob Oktoberfest oder Weihnachtsmarkt macht kaum Unterschied… Kurz: das ist dort alles irgendwie so uncharmant mit all seiner Antiästhetik, dass es bei mir ein gewisses „jetzt erst recht“ hervorruft. Wer sind die Menschen da? Was machen die da? Und siehe da – ich habe mich dann auch immer mal wieder dabei ertappt, wie ich dort fröhlich zur Bulette mein Bier getrunken habe und durchaus auch mal zu dem ein oder anderen Schlager mitgesummt habe, der dort über die Betonplatten weht. Na also, geht doch.

Jens Pepper: Mir gefällt Dein Buch mit den Alex-Fotos ziemlich gut. Mit was für einer Kamera hast Du hier gearbeitet?

Christian Reister: Mit einer recht unspektakulären Kompaktknipse. Neu für mich war damals die 24 mm Brennweite und die Bildproportion 16:9. Beides benutze ich sonst nicht und hat der Arbeit einen besonderen Stempel aufgedrückt.

Jens Pepper: Was benutzt Du denn sonst? Also, was für Kameras.

Christian Reister: Kommt aufs Projekt an. Meist Kameras, die in die Jackentasche passen. 35 mm, nichts ungewöhnliches also.

Jens Pepper: Analog, digital, oder beides?

Christian Reister: Beides.

Jens Pepper: Gibt es Situationen, Motive, in bzw. bei denen Du eine Technik bevorzugst? Was sind die jeweiligen Vorteile der einen Technik gegenüber der anderen, wenn man Street Photography betreibt?

Christian Reister: Farbarbeiten digital, die neue Serie NACHT allerdings war von vornherein als schwarz/weiss und grobkörnig angedacht, da arbeite ich dann lieber mit Film als Digitalbilder umzuwandeln. Obwohl das natürlich auch ein völlig legitimes Mittel ist, ich bin da kein Dogmatiker. An der Arbeit mit Film schätze ich u. a. auch, dass man das Ergebnis nicht immer gleich sieht und ich lasse die Filme gerne lange liegen, bevor sie entwickelt werden. Das entschleunigt die Arbeitsweise und trennt die Bilder besser vom persönlich Erlebten zum Zeitpunkt der Aufnahme.

Jens Pepper: Was heißt, lange liegen lassen? Gleich mehrere Monate oder einfach nur ein paar Tage?

Christian Reister: Ruhig ein paar Monate.

Christian Reister - aus der Serie “Nacht” (seit 2011)

Christian Reister – aus der Serie “Nacht” (seit 2011)

Jens Pepper: Wieso denkst Du, dass der noch vorhandene Eindruck des gerade erst Erlebten Dich in einer objektiven Beurteilung der gemachten Aufnahmen beeinflussen könnte? Als seherfahrener Mensch kannst Du doch die Spreu vom Weizen trennen.

Christian Reister: Naja, kühne Behauptung. Ich kenne keinen Fotografen, der bei der Beurteilung der eigenen Arbeit nicht seine Schwierigkeiten hat, das Bild von der erlebten Realität zu trennen. Das ganze Drumrum, die Geräusche, die Gerüche, die Atmosphäre eines Ortes, die eigene Verfassung etc. schwingen ja aus der Erinnerung mit, wenn ich mein eigenes Bild betrachte. Das Bild selbst klingt und riecht aber nicht. Hat noch nicht mal eine dritte Dimension. Das ist einfach nur ein flaches Oberflächenabbild, bei dem es ja auf ganz andere Kriterien ankommt als im “richtigen” Leben. Um das klarer sehen zu können, hilft es mir, die Bilder zeitlich getrennt vom Geschehen zu betrachten. Das habe ich ja aber nicht erfunden, Henry Wessel oder Garry Winogrand sind bekannte Vertreter dieser Methode.

Jens Pepper: Winogrand hat ja zuletzt massiv fotografiert und, wenn überhaupt, mal gerade die Filme entwickelt. Als er starb hat er sehr viele unentwickelte Filme hinterlassen. Aber war das alles wirklich dem Umstand geschuldet, dass er, so wie Du, erst Abstand zu dem erlebten haben wollte? Ich dachte immer, dass er einfach ein manischer Fotograf war, der einfach arbeiten, also Bilder machen musste bzw. wollte. Die Abzüge waren da nur noch zweitrangig. Aber ich habe mich auch nur fragmentarisch mit seiner Arbeitsweise auseinandergesetzt. Da wirst Du als jemand, der im selben Bereich arbeitet, mehr über ihn wissen.

Christian Reister: Ich glaube beides stimmt. Bei seiner eigenen Arbeit ging es ihm zuletzt nur noch um das Fotografieren selbst, hat alles weitere vernachlässigt. Als Lehrer hat er aber, so weit ich weiß, die Methode des “Erst mal liegen lassens” empfohlen. Der Winogrand-Experte per se bin ich jetzt aber auch nicht. Bei Henry Wessel bin ich mir sicher, dass er so vorgeht.

Jens Pepper: In dem bisher Gesagten beziehst Du Dich ausschließlich auf Amerikaner, die in der Street Photography aktiv waren oder es im hohen Alter eventuell noch sind. William Klein allerdings lebt und arbeitet in Paris. Was aber ist mit deutschen Fotografen? Da gibt es niemanden, der Dich interessiert? Hier gab und gibt es doch auch Straßenfotografen – klingt merkwürdig auf Deutsch, ich weiß – die einiges geleistet haben. Ist es, weil die deutschen Fotografen eher mit einem dokumentarischen Ansatz an die Sache ran gegangen sind, und nicht mit diesem experimentellen Ansatz, wie er beispielsweise von Winogrand und Klein gepflegt wurde?

Christian Reister: Ja – das mit dem „eher dokumentarischen Ansatz“ trifft es sicherlich. Trotzdem gibt es natürlich auch hier viel zu entdecken. Friedrich Seidenstücker mag ich für seinen liebevollen Humor, Harald Hauswand schätze ich wegen seiner authentischen Geradlinigkeit und Gundula Schulzes frühe Arbeiten – Berlin in einer Hundenacht – sind großartig. Letztere würde man gemeinhin aber nicht als Straßenfotografin bezeichnen. Vielleicht sind die Deutschen einfach in anderen Bereichen erfolgreicher. Becher, Gursky etc. – das ist ja eine völlig andere Welt. Und sehr deutsch.

Jens Pepper: Meinst Du, die Deutschen sind eher für die Verwaltung und geordnete Archivierung von Motiven gut? Die Bechers mit ihren Wassertürmen, Candida Höfer, die die Pariser Oper oder Bibliotheken dokumentiert, usw.?

Christian Reister: Deine Formulierung ist lustig. Da grinse ich mir eins und lasse das gerne so stehen.

Jens Pepper: Wenn die deutsche Fotografie in Deinen Augen ihre ganz speziellen Eigenarten hat, wie sieht es dann mit der Rezeption von Fotografie in Deutschland aus. Ist diese nach Deinen Erfahrungen auch anders als beispielsweise in den USA, also vor allem im Bereich Street Photography, um wieder auf unser eigentliches Thema zurückzukommen? Gibt es hier andere Interessen seitens der Kritik, der Galerien, der Medien etc. Was für Erfahrungen hast Du hier?

Christian Reister: Sicher – die Fotografie und vor allem die Straßenfotografie hat in Amerika seit je her einen ganz anderen Stellenwert. Die gehört da einfach zur Kultur und war ja auch schon viel früher eine anerkannte Kunstform. Ich beklage das aber nicht. Es gibt in Deutschland, besonders in Berlin, genug Raum, das auszuleben, sowohl was das Fotografieren angeht als auch die Ausstellungsmöglichkeiten. Im ersten Halbjahr 2013 habe/hatte ich Ausstellungen in Kneipen, Off-Galerien, einem Hotel, einem italienischen Restaurant und – in Wien – in einen „Schauraum für Mode und Fotografie“. Das sind alles keine subventionierten Kunstadressen und das ist doch großartig! In gewisser Weise hängen die Bilder dort wo sie herkommen. Ich würde mich nicht gegen eine Ausstellung in einem Museum wehren, aber notwendig ist das nicht. Neue Wege der Zurschaustellung der eigenen Arbeit bietet das Internet und es ist immer einfacher, selbst Künstlerbücher zu produzieren und auch ein Publikum dafür zu finden.

Jens Pepper: Wie benutzt Du das Internet um Deine Arbeit zu verbreiten?

Christian Reister: Ich habe eine Website mit den wichtigsten Arbeiten darauf (reister-images.de) und betreibe ich einen Blog (blog61), auf dem ich hin und wieder Fotos poste, ein bisschen aus dem Nähkästchen plaudere und auf Fotografen, Veröffentlichungen oder Ausstellunge hinweise, die ich gerade bemerkenswert finde. Nach langer Verweigerungshaltung nutze ich mittlerweile auch Facebook. Und: Ich vertreibe meine Bücher über meine Website. Ohne Verlag, ohne Dealer, alles direkt vom Erzeuger. Dafür gibt es ein weltweit überschaubares aber sehr interessiertes Publikum.

Jens Pepper: Ein Buch selbst zu produzieren hat ganz klar Vorteile: Du hast die Kontrolle über die von Dir favorisierte Gestaltung, und du verdienst mehr, wenn sich das Buch überhaupt verkauft; vorausgesetzt natürlich, die Stückzahl ist hoch genug. Natürlich trägst Du dann das Risiko. Ein Verlag hingegen, wenn es denn ein eingeführter und im Markt etablierter ist, bringt ein Buch über Buchmessen und ein vorhandenes Distributionsnetz im Zweifelsfall an mehr potentiell interessierte Kunden. Beide Publikationswege haben also ihre Licht- und Schattenseiten.

Christian Reister: Ich sehe meine kleinen bescheidenen Werke ja eher als Künstlerbücher. Mit der Arbeit eines professionellen Verlags ist das nicht zu vergleichen.

Jens Pepper: Welche Fotobücher, die Du in letzter Zeit gesehen hast, findest Du besonders reizvoll?

Christian Reister: Oliver Kern: Die deutsche Aussicht. “Miss” von Martin Guggisberg. Die Compilation “Mono Vol.1″ aus dem Gomma Book Verlag – eine sehr schön gemachte Übersicht zeitgenössischer Schwarzweissfotografie. Persönliche Wiederentdeckungen der letzten Zeit: “Tony Ray-Jones by Russell Roberts” und „Grim Street“ von Mark Cohen.

Christian Reister - o. T. (Berlin, 2010)

Christian Reister – o. T. (Berlin, 2010)

Christian Reiser - Photo by Pepper

Christian Reister, *1972,  ist Fotograf, Gestalter und Ausstellungsmacher. Er lebt und arbeitet in Berlin. Dokumentations- und Straßenfotografie, Portraits. Zahlreiche Veröffentlichungen und Ausstellungen im In- und Ausland. Betreibt das Fenster61.

Ein gekürzte Fassung dieses Gesprächs ist in der Zeitschrift Brennpunkt, Ausgabe 3/2013, erschienen.

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