„Mir fiel das Fotografieren wahrscheinlich so leicht wie Mozart das komponieren.“ – Jens Pepper im Gespräch mit Miron Zownir.

Foto: Miron Zownir

Jens Pepper: Du bist gerade aus Los Angeles zurückgekommen. Hast du dort für ein Projekt fotografiert?

Miron Zownir: Ja, aber es war ein selbst finanziertes Projekt, ohne Auftraggeber, wie die meisten meiner Fotoprojekte. Ich war sieben Wochen in Kalifornien mit einem kurzen Abstecher nach Las Vegas. In Los Angeles habe ich mich hauptsächlich auf die Skid Row, Venice und Hollywood konzentriert, in San Francisco auf das Tenderloin, in Süd Kalifornien auf die Salton Sea Region inklusive Bombay City und Scrap City, eine der ärmsten Gegenden Amerikas und in Las Vegas auf die Straßen-Entertainer. Wobei die Doku über die Salton Sea Region in Zusammenarbeit mit Chris Campion entstand, der u.a. als Journalist für den Guardian arbeitet.

Jens Pepper: Jetzt hast du mir die Orte deiner Tour genannt, aber Thema werden wieder die Menschen gewesen sein, um die es dir ja eigentlich geht, um die sozial Abgehängten, um Angehörige von Randgruppen, Außenseiter, Freaks etc. Welche Menschen hast du auf dieser Reise aufgesucht? Wusstest du im voraus wen du treffen würdest, oder hast du dich treiben lassen, auf der Suche nach dem richtigen Motiv?

Miron Zownir: Bei meinen fotografischen Recherchen weiß ich nie im Voraus wem ich begegnen werde. Ich suche bestimmte Orte auf und orientiere mich an dem, was mir auffällt, und an dem was mich interessiert. Manchmal gibt es konkrete Anhaltspunkte und manchmal streune ich einfach nur intuitiv durch die Gegend. Dabei suche oder finde ich die richtigen Motive eben meistens unter den Außenseitern, Unterprivilegierten oder Randgruppen der Gesellschaft. Menschen, für die sich sonst keiner interessiert oder denen man gerne aus dem Wege geht, weil sie unbequem, schmutzig, hässlich oder gefährlich sind. Wobei das Beurteilungen sind, die mich nicht interessieren. Viele dieser Menschen sind Opfer – krank, vereinsamt, isoliert, Kontaktgeschädigt, hilfsbedürftig und nicht mehr in der Lage mit den Erfordernissen der Gesellschaft klar zu kommen.

Aber es gibt natürlich auch andere Motive, die ich fotografiere, Aussenseiter bei choice, Menschen die anders sind, vielleicht sogar Freaks, aber durch ihr Charisma, ihren Stil oder ihre Haltung schöner und attraktiver als viele sogenannte Stars oder Celebritys sind.

Jens Pepper: Was interessiert dich an Kalifornien?

Miron Zownir: Kalifornien galt immer als Vorzeigestaat und Trendsetter. Als das Eldorado der Aussteiger und Ausgeflippten, Stars und Sternchen, ein von der Sonne verwöhntes Paradies, das aufgebläht von unzähligen Hollywood Produktionen zum Mythos wurde. Ich habe 89 für ein Jahr in LA gelebt und kannte andere Seiten: Segregation und Vorurteile, Selbstüberschätzung und Größenwahn. Unzählige Methheads, Obdachlose, gesellschaftlich Ausgestoßene, Ignoranten, Hedonisten und eitle Polizisten, die an das Recht des Stärkeren glaubten. Und natürlich hat mich vorrangig interessiert wie sich LA und Kalifornien, 30 Jahre später, in meiner subjektiven Wahrnehmung verändert hat.

Jens Pepper: Wie hat sich Kalifornien verändert?

Miron Zownir: Venice Beach scheint weniger kriminell, aufgeschlossener und integrierter zu sein. Obdachlose, Geschäftsleute und Anwohner scheinen ohne größere Probleme miteinander auszukommen und es gibt überall sanitäre Einrichtungen, die allen zur Verfügung stehen. Wobei die Mietpreise für Normalsterbliche unerschwinglich geworden sind. Hollywood ist cleaner, kommerzieller, langweiliger und oberflächlicher geworden. Und Skid Row LA ist größer, desolater, gefährlicher und hoffnungsloser denn je. Alles in allem hat die Gentrifizierung LA unvorteilhaft, wie alle großen Metropolen der Welt, verändert.

Zu den anderen Städten und Gegenden Kaliforniens habe ich keine Vergleichswerte. Auffallend ist jedoch eine allgegenwärtige Polarisierung zwischen arm und reich. Die einen haben zu viel, die meisten zu wenig. Für den reichsten Staat Amerikas gibt es erschreckend viel Armut und das kulturelle Niveau ist ausbaufähig.

Jens Pepper: Hast du den Präsidentschaftswahlkampf als allgegenwärtiges Thema wahrgenommen? Und ist er für die Abgehängten in der Gesellschaft eigentlich von Bedeutung, möglicherweise gerade weil Trump so vereinfachend populistisch daherkommt? Oder herrschen in dieser Bevölkerungsgruppe Resignation und Desinteresse?

Miron Zownir: Der Wahlkampf war außer in den Medien kaum wahrnehmbar. Keine Bilboards, keine Wahlplakate. In Kalifornien, das traditionell demokratisch ist, hat Trump eh keine Chance. Auf einer Unterhose mit einem amerikanischen Flaggenmotiv stand „Fuck Trump“ und ein Bettler schrieb „Give me some money or I vote for Trump“. In Las Vegas trug ein Straßenperformer mit einer Trump Maske nichts als Windeln und machte das Siegeszeichen à la Nixon. Beide Präsidentschaftskandidaten sind ziemlich unpopulär, was natürlich sowohl Desinteresse als auch Resignation zur Folge hat. Im Nachhinein war Obamas optimistische Prognose „Yes we can“ ebenso populistisch wie Trumps „the good, the bad and the ugly“-Vereinfachung und Hillary Clinton traut sowieso keiner. Alles in allem sind viele aufgeklärte Amerikaner beschämt über ihre beiden Präsidentschaftskandidaten und haben Angst vor dem was auf sie zukommen könnte.

Jens Pepper: Ich würde Obamas „Yes we can“ eher als hoffnungsvollen Motivationsausdruck sehen, der alle Bürger mit einbezieht und keinen ausgrenzt, wohingegen Trump klar polarisiert, was ihn für mich so gefährlich macht. Mit Clinton hast du natürlich recht. Sie ist auch eine problematische Kandidatin.

Kleine Anekdote zwischendrin. Bevor ich 1987 nach Berlin zum Kunstgeschichtsstudium kam, hatte ich als Etagenkellner im Londoner Savoy Hotel gearbeitet. Dort waren u.a. auch Gouverneur Bill Clinton und seine Frau Hillary meine Gäste. Als sie dann wieder abgereist waren, hatten sie eine Kopie ihres Terminplans in den Papierkorb geworfen, den ich aus Neugierde an mich genommen habe. Er zeigte alle Verabredungen der beiden in Großbritannien, Deutschland, Italien und Frankreich. Und soweit ich mich erinnere, ging es nur um Treffen mit Vertretern der Rüstungsindustrie. Clintons Nähe zur Waffenindustrie ist ja durchaus bekannt. Aber dies nur als Einschub.

Wenn du, wie jetzt in Kalifornien, gezielt für ein Projekt fotografierst, wie sieht dein Tagesablauf aus?

Miron Zownir: Außer dass ich früh aufstehe, eine bestimmte Gegend aufsuche und stundenlang unterwegs bin, gibt es keine Konstante. In LA habe ich zum ersten Mal auch aus dem Auto heraus fotografiert, also so eine Art „Drive by Shooting“ praktiziert. War für mich eine neue Erfahrung und hat ganz gut funktioniert. Wobei die Ergebnisse unvorhersehbarer sind, weil man flüchtiger operiert und noch schneller handeln muss.

Jens Pepper: Bei einem Projekt wie diesem hast du keine Gelegenheit, die Menschen, die du portraitierst, vorher kennenzulernen. Für die bist du ein Fremder, der da auf einmal steht und Fotos macht. Wie gehst du mit den sich permanent verändernden Aufnahmesituationen um? Ist das nach all den Jahren deiner Arbeit als Fotograf Routine oder sind das jedes Mal aufs neue Momente in denen du auch mal nervös, unsicher, vielleicht sogar ängstlich bist?

Miron Zownir: Klar automatisiert sich nach Jahren der Fotografie eine Art Routine, er gibt Erfahrungswerte, die einem eine gewisse Sicherheit und Gelassenheit geben. Aber gleichzeitig hat jede Situation ihre eigene Dynamik und jeder Mensch ist verschieden. Es gibt die unterschiedlichsten Begegnungen auf die man individuell reagieren muss. Nervös, unsicher oder ängstlich fühle ich mich dabei nicht. Aber manchmal bin ich vielleicht etwas angespannter, vorsichtiger, abwartender und ich versuche situativ den richtigen Moment zu erfassen. Alles in allem ist es oft auch eine Frage der Psychologie wie und wann man einen Menschen fotografiert, auf ihn zugeht oder den falschen Moment meidet. Manchmal hat man keine Wahl und muss spontan und intuitiv reagieren, ohne dass man viel Zeit zum Überlegen hat. Und manchmal fotografiere ich eine Situation bevor man auf mich aufmerksam wird und muss mich dann mit der Reaktion auseinandersetzen.

Jens Pepper: Wenn es zu einer negativen Situation kommt, versuchst du den Fotografierten für dein Projekt zu gewinnen, um so das Foto verwenden zu können, oder im schlimmsten Fall, um keine Gescheuert zu bekommen? Oder löscht du auch mal Fotos, was natürlich nur geht, wenn du inzwischen digital fotografierst? Fotografierst du digital?

Miron Zownir: Ich fotografiere ausschließlich analog, also habe ich nie ein Foto gelöscht, aber auch nie einen Film rausgerückt oder mich verprügeln lassen. Erstens merkt man mir an, dass ich mich wehren würde, zweitens weiß ich mich zu verteidigen und drittens kann ich Gefahren ahnen, einschätzen und mich darauf einstellen. Es ist auch eine Frage des Stils und des Charismas wie man wen fotografiert, aber ein Risiko bleibt immer und man kann immer mal den Kürzeren ziehen. Aber trotz aller Risikobereitschaft ist eine Schlägerei das Letzte, das ich mir bei meiner Arbeit als Fotograf wünsche und im Grunde genommen kann ich jeden verstehen, der sich nicht fotografieren lassen will. Also ist oder wäre jede Schlägerei wegen eines Fotos ein schizophrener Zustand für mich.

Jens Pepper: Wo war es für dich am schwierigsten zu fotografieren? Ist Moskau beispielsweise ein härteres Pflaster für einen Fotografen als Berlin, New York oder LA oder wo auch immer? Vielleicht auch, weil du der Sprache nicht mächtig bist? Oder sprichst du russisch? Und hat sich im Verlauf der Jahrzehnte, also seit Beginn der 1980er Jahre, etwas verändert in der Bereitschaft und Aufgeschlossenheit der Leute, sich fotografieren zu lassen, egal wo? Du kannst für einige Orte sicherlich Vergleiche anstellen.

Miron Zownir: Es gab überall harte oder gefährliche Situationen. Aber Moskau 1995 war alles in allem der hoffnungsloseste und gefährlichste Ort. Die Gefahr ging weniger von den Menschen aus, die ich fotografierte, dafür waren sie meist zu lethargisch, krank oder schwach. Aber es gab so viele unterschiedliche Polizei- und Milizeinheiten mit undurchsichtigen Kompetenzen und ich musste mich immer wieder vor betrunkenen, Kalaschnikow schwingenden Uniformierten ausweisen und rechtfertigen, wobei keiner Englisch verstand und ich kein Russisch sprach. Irgendwann ist das Ganze zu einem irrwitzigen Katz- und Mausspiel oder Spießroutenlauf degeneriert. Der Grund dafür war, dass ich immer die gleichen Plätze aufsuchte und irgendwann dem besoffensten Bullen auffiel, dass ich nicht das schicke Vorzeige-Moskau fotografierte.

Jens Pepper: Du hast 1998 in Moskau ausgestellt. Eben hast du angedeutet, dass es nicht unbedingt im Interesse der Miliz, der Polizei und wohl auch nicht im Sinne der Stadtverwaltung und generell der Politik war, dass da einer aus dem reicheren Westen Fotos vom Elend in der russischen Hauptstadt macht. Wie wurde die Ausstellung in Moskau aufgenommen? Oder lief sie unter dem Radar gewisser etablierterer Kreise?

Miron Zownir: Die Ausstellung fiel noch in die Amtszeit von Boris Yeltsin. Es war eine chaotische Zeit, aber Russland war noch um einem Anschluss an den Westen bemüht und die Medienlandschaft war noch freier als in den späteren Putin Jahren. Wie fast alle Kunstausstellungen, die nicht dem Massenniveau huldigen, wurde auch meine Ausstellung nur von wenigen interessierteren und informierten Kunst- und Fotografieliebhabern besucht. Die politische Dimension wurde damals genauso im Osten, wie im Westen ignoriert oder nur von wenigen wahrgenommen. Hier wie dort wollte man unter dem Vorwand der Aussöhnung nur Geschäfte machen und hatte kein Interesse daran den Schattenseiten der sogenannten Liberalisierung und demokratischen Befreiung die geringste Aufmerksamkeit zu schenken.

Jens Pepper: Du hast gerade erst in den Deichtorhallen ausgestellt. Sperrig ist dein Werk für den Massengeschmack ja noch immer, das betrifft sowohl die frühen als auch die aktuellen Arbeiten. Aber du hast dir über einen Zeitraum von ca. 35 Jahren eine Reputation aufgebaut. Wird dein Werk daher jetzt von mehr Menschen als interessant empfunden als beispielsweise vor zwei Jahrzehnten, die dann auch in deine Ausstellungen kommen?

Miron Zownir: Naja, etwa ein bis zwei Jahre vor der Ausstellung in den Deichtorhallen war das Medieninteresse an meiner Arbeit schon enorm angestiegen. Das lag vor allem an meinen letzten drei Fotobüchern. „Down &Out in Moscow“, „Ukrainian Night“ und „NYC RIP“. Dazu kam, dass ich mit der Hardhitta Gallery von Bene Taschen endlich adäquat repräsentiert wurde. Unter anderem auf der Paris Photo und anderen großen Messen. Ich wurde außerdem zweimal hintereinander für den Lead Award vorgeschlagen und meine Ausstellungen waren immer gut besucht. Man muss ja nicht Main Stream sein, um eine Galerie voll zu bekommen. Wahrscheinlich bin ich seit den Deichtorhallen für eine breitere Gesellschaftsschicht von einer Persona non grata zum Enfant Terrible aufgestiegen. Politisch unkorrekt oder fragwürdig werde ich für viele trotzdem weiterhin bleiben. Dafür sind meine Fotos, Filme oder Bücher einfach zu unbequem.

Jens Pepper: Welche Fotografen, Filmemacher und Autoren sind derzeit für dich persönlich von Bedeutung, welche waren es zu Beginn deiner Laufbahn? Gab oder gibt es Inspirationen aus dieser Ecke?

Miron Zownir: Soweit ich zurückdenken kann, war ich musisch veranlagt. Ein Sucher, Beobachter und Träumer, während meine Vorfahren wahrscheinlich eher praktisch und pragmatisch waren oder sein mussten, weil sie sich die Flausen, Privilegien und Freiräume eines introvertierteren Lebens nicht leisten konnten.

Allerdings war mein Großvater mütterlicherseits während der Nazizeit Kommunist und die Familie meines Vaters wurde wegen ihrer antisowjetischen Haltung nach Sibirien verbannt. Also waren unter meinen Vorfahren durchaus Idealisten.

Aber zur Frage: Zuerst hatten mich die Märchen von Andersen oder den Gebrüder Grimm fasziniert, die illustrierten Klassiker wie Moby Dick oder Don Quijote, natürlich Comic-Hefte, Erwachsenen-Magazine wie Stern, Neue Revue oder Quick, alles was mein Weltbild erweitert hat. Mit dreizehn fiel mir „Der Fremde“ von Camus in die Hände und von da an habe ich mich autodidaktisch durch die Weltliteratur gelesen. Alles in allem haben Dostojewski, Shakespeare, Nietzsche und Kafka den nachhaltigsten Eindruck in mir hinterlassen. Aus der neueren Zeit haben mich wahrscheinlich Camus, Bukowski, Hubert Selby, Genet und Celine am meisten beeindruckt.

Mein erster Kinofilm mit acht oder so, war ein Western von John Ford mit John Wayne, wobei mich der Vorfilm „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ von Renoir damals fast noch mehr fasziniert hat. Aus der langen Liste von Filmemachern würde ich wahrscheinlich Eisenstein, Keaton, Chaplin, Murnau, Bunuel, Bergmann, Melville, Polanski, Kubrick, Bertolucci, Kurosawa, Fassbinder, Herzog, Clouzot, Toni Richardson und Orson Welles nennen.

Mit Fotografen habe ich mich erst beschäftigt als ich selbst fotografierte und thematisch und stilistisch eine eigene Handschrift hatte. Meine Lieblingsfotografen unter den Klassikern sind Weegee, Kertesz, Robert Frank, Diane Arbus, Don McCullin, Bruce Davidson, Enrique Mentinides. Unter den neueren oder neu entdeckten Vivian Meyer, Anders Petersen, Arlene Gottfried, Scott Typaldos, um nur einige zu nennen.

Jens Pepper: Du schreibst auch Romane und machst Filme. Hat sich das alles parallel mit der Fotografie entwickelt?

Miron Zownir: Meine Faszination galt zuerst der Literatur, dann dem Film und erst mit Mitte 20 der Fotografie. Obwohl ich genau umgekehrt zuerst fotografierte, dann Filme machte und zuletzt etwa seit Ende der 90’er Jahre, Romane, Gedichte und Kurzgeschichten schreibe.

Jens Pepper: Welche Fotos siehst du als die ersten gültige Werke in deinem Oeuvre an und wann sind diese entstanden?

Miron Zownir: 1977 in Berlin entstanden die ersten authentischen Straßenfotos. 1978 zog ich für ein Jahr nach London und habe dann dort kontinuierlich zu fotografieren begonnen.

Jens Pepper: Was verstehst du in diesem Zusammenhang unter authentisch? Fotos, in denen dein künftiger Stil bzw. deine künftige Art zu fotografieren zu erahnen ist?

Miron Zownir: Ich musste erst Mal mit der Kamera meiner damaligen Freundin vertraut werden und habe etwas herumexperimentiert. Sobald ich die Kamera im Griff hatte, bin ich auf die Straße und habe die Menschen fotografiert, die mich auch heute noch interessieren, eben Down and Outs, Outsider, Freaks etc. Ich hatte von Anfang an meinen Stil und eine eigene Handschrift. Ich wiederhole mich hier, aber mir fiel das Fotografieren wahrscheinlich so leicht wie Mozart das komponieren.

Jens Pepper: Oh, das höre ich heute zum ersten Mal, finde es aber gut, ehrlich. Ich denke, dass manche Menschen einfach intuitiv spüren, wenn sie etwas gut können. Und wenn sie sich dann trauen, das auch zu ihrem Beruf zu machen, dann ist das klasse. Ab wann konntest du von deiner Fotografie leben bzw. über die Runden kommen?

Miron Zownir: Wahrscheinlich seit 2010. Bis dahin hatte ich alle möglichen Jobs, um mich über Wasser zu halten.

Jens Pepper: Was hat dich 1978 nach London gezogen? Der Punk?

Miron Zownir: Einfach die Stadt. Punks gab es genug in Berlin. Ich wollte mich weiterorientieren und hatte wahrscheinlich im Hinterkopf bereits den Absprung nach Amerika.

Jens Pepper: Welche Rolle hat die Fremde, haben London und danach New York und die anderen amerikanische Städte in deiner Entwicklung als Fotograf gespielt?

Miron Zownir: Eigentlich habe ich mich überall irgendwie entfremdet gefühlt, selbst in meiner Heimatstadt. Am wenigsten vielleicht in New York und am meisten in Moskau, obwohl ich dort nur drei Monate war. Wie auch immer, natürlich waren besonders Berlin, London und New York City durch ihre Dynamik unheimlich wichtig für mich. Es gab viele interessante Motive und ich habe überall den Zeitgeist und die besondere Atmosphäre dieser Metropolen subjektiv festgehalten. Wie übrigens auch in Moskau, das erschütternde Leid vieler Menschen, nach dem Kollaps des Sowjetregimes. Ich habe mich nicht unbedingt als Fotograf weiterentwickelt, aber mein fotografisches Werk ausgebaut. Ich war immer, für jede Herausforderung, ready. Von Anfang an.

Jens Pepper: Du lebst jetzt wieder in Berlin. Ist die Stadt Heimat für dich. Kannst du überhaupt etwas anfangen mit dem Begriff Heimat?

Miron Zownir: Wenn man obdachlos ist oder in den Krieg ziehen muss, sehnt man sich schon nach so etwas wie Heimat. In unserer satten, abgesicherten westlichen Welt wird man schnell arrogant wenn es um den Begriff Heimat geht. Vor allem in Deutschland wo man solche Begriffe schnell mit dem dritten Reich assoziiert. Aber die Bedingungen werden auch im Westen immer härter und wer sonst nicht viel hat, ist froh wenn er sich noch ein Dach über dem Kopf leisten kann, also etwas, dass er sein Home oder Heim nennen kann. Und das ist doch schon mal so etwas wie Heimat.

Zu dem Begriff Heimat fallen mir allerdings auch folgende Lyriks ein. „Papa was a rolling stone.
Wherever he laid his hat was his home.”
Auf mich bezogen muss ich sagen, dass ich nicht zu lange an einem Platz bleiben kann, ohne eine tiefe Unruhe zu spüren. Aber gleichzeitig eine Basis brauche, wo ich mich zurückziehen und regenerieren kann. Und das ist definitiv Berlin seit gut 20 Jahren.

Jens Pepper: Welche Rolle spielt Mitleid in deinem Schaffen?

Miron Zownir: Meine Fotos suggerieren viele Gefühle und Reaktionen, natürlich auch Mitleid. Wobei passives Mitleid ein Zustand ist, den man gerne verdrängt oder von vorneherein nicht zulassen will. Im Film oder der Literatur kann man traurige Erlebnisse, Situationen oder Geschichten durch die Handlung relativieren oder modifizieren. In der Fotografie bleibt der negative Eindruck selbst nach dem Wegschauen. Das macht viele meiner Fotos für den Betrachter so schwer zu verdauen. Angesicht des ganzen Elends der Welt stellt die Indifferenz der einen sowie das politisch korrekte Gejammer der anderen kein Gleichgewicht dar. Es gibt so viele traurige Schicksale, die sich nicht manifestieren, dokumentieren oder fotografieren lassen. Und hinter dem, was oberflächlich betrachtet so trostlos wirkt, verbirgt sich manchmal so etwas wie Hoffnung, ein temporäres High oder eine menschliche Regung, die man von außen nicht beurteilen kann. Ich glaube, dass meine Fotos in erster Linie zum Nachdenken animieren, neugierig machen, starke Gefühlsreaktionen erzeugen und mehr Fragen provozieren als Antworten bieten. Über allem steht der Respekt und die Empathie für das Individuum Mensch, das sich in keine Schablone zwängen lässt, sich gegen gesellschaftliche Zwänge auflehnt, allzu oft auf der Strecke bleibt oder gegen alle Minuschancen weiterkämpft.

Jens Pepper: Wie sehr lässt du das Leid, das du bisweilen siehst, an dich heran? Denkst du manchmal, dass du es sein lassen solltest, diese Schicksale zu suchen und zu dokumentieren? Mir kommt beim Anblick deiner Arbeiten und wenn ich deine engagierten und mitfühlenden Aussagen höre, der Gedanke an einem modernen Schmerzensmann. Du erlöst die Fotografierten zwar nicht von ihrem Leid, bist aber, indem du die Bilder zeigst, ihr Fürsprecher.

Miron Zownir: Als moderner Schmerzensmann würde ich mich absolut nicht bezeichnen. Ich bin auch nicht die Mutter Theresa der Fotografie. Ich registriere Situationen und Schicksale, die mich nicht kalt lassen, aber ich gehe nicht zum nächsten Schritt über und engagiere mich politisch oder sonst wie, um etwas an dem Leid dieser Menschen zu ändern. Außerdem differenziere ich auch zwischen den einzelnen Schicksalen. Für die einen empfinde ich mehr, für die anderen weniger. Und wie bereits erwähnt, habe ich auch Leute in der Gosse getroffen, die besser drauf sind, als so mancher, der sich mit drei Jobs über Wasser halten muss, um sich seine Yuppie Existenz leisten zu können. Dann schon eher als Fürsprecher, obwohl das eine Konsequenz meiner Arbeit ist und nicht unbedingt mein ursprünglicher Anspruch. Ich ziehe zunächst mal ohne Erwartung los und bewege mich intuitiv wohl immer in die gleiche Richtung. Der Unterschied zu mir und vielen anderen Fotografen ist wahrscheinlich der, dass ich auch dann nicht umkehre oder zurückschrecke, wenn ich Abgründe betrete, die kaum jemand sehen will oder lange nicht sehen wollte.

Jens Pepper: Arbeitest du eigentlich immer parallel an Fotografien, Filmen und Literatur, oder wechselt sich das ab? Gewinnst du mittels des einen Mediums Abstand zu den anderen?

Miron Zownir: Meistens arbeite ich exklusiv an einem Projekt. Außer wenn sich eine Arbeit über einen langen Zeitraum erstreckt, wie z.B. bei meinem letzten Fullfeature-Film „Back to Nothing“ oder für mein letztes Fotobuch „Berlin Noir“. In Moskau oder zuletzt in Kalifornien habe ich ausschließlich fotografiert. Wenn ich an einem Drehbuch schreibe, macht mir eine Unterbrechung weniger aus als z.B. bei einem Roman, obwohl ich dafür länger brauche. Aber der Arbeitsprozess ist intensiver, die Identifikation mit den Charakteren tiefer, persönlicher und ausschließlicher. Und es gibt kein Back Up. Der Roman ist das Endprodukt. Nach langer, intensiver, abgeschlossener Arbeit mit einem Medium ist es auch manchmal eine angenehme Abwechslung mich einem anderen Medium zu widmen, zumal ich mir selten einen Urlaub oder eine kreative Auszeit leisten kann.

Jens Pepper: Miron, es gäbe noch unendlich viel zu fragen, aber ich denke, dass wir für jetzt einen Schlusspunkt setzen. Vielleicht sprechen wir ja irgendwann noch einmal über deine Romane und Filme. Für heute danke ich dir aber erst einmal.

Miron Zownir, Foto von Nico Anfuso

Miron Zownir lebt als Fotograf, Schriftsteller und Filmemacher in Berlin, begibt sich aber regelmäßig auf Reisen, um neue Bilder und Ideen zu finden.

www.mironzownir.com

„Ein wenig Selbsttherapie ist natürlich immer mit dabei.“ – Jens Pepper im Gespräch mit Oliver S. Scholten.

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Jens Pepper: Du wirst jetzt erstmals einen Gesamtüberblick über dein fotografisches Schaffen in der Galerie Carpentier zeigen. Das wird, schon wegen der Größe der Räume, nur sehr pointiert möglich sein, aber eine parallel dazu erscheinende Publikation wird einen tiefergehenden Einblick ermöglichen. Du hast in diesen rund drei Jahrzehnten, in denen du auch durchgehend als Dozent tätig warst, ein sehr vielfältiges Werk geschaffen, das sich nicht so einfach erschließen lässt. Aus was für einer persönlichen Motivation heraus sind die Arbeiten entstanden? Ich frage das, weil ich weiß, dass du auch ein gewisses Sendungsbewußtsein in dir trägst.

Oliver S. Scholten: Ja, da hast du recht. Dass ich bei 30 Jahren nur einen kleinen Teil zeigen kann ist aber natürlich. Die räumliche Begrenzung lässt mir allerdings die Möglichkeit Spots zu setzen. Man kann ja über die Auswahl einen Spannungsbogen innerhalb des Mediums schaffen. Und was mir immer wichtig bei Ausstellungskonzeptionen ist, ist die Gestaltung eines Erlebnisraums, eines Raums, der Lust auf Mehr macht. Es ist wie mit einem Roman; man liest die ersten Seiten, verschlingt denn Rest, und ist dann begierig auf die Fortsetzung. Ob ich dem gerecht werde, weiß ich nicht. Aber auch das visuelle Medium ist eingängig, genauso wie das verbale. Und da du auf meine Tätigkeit als Dozent und meinen Anspruch hingewiesen hast, und damit auch auf die Erwartungen der Hörer, denke ich, dass das passt.

Es macht mir ja Freude, meine eigene Arbeit mit dem Vermitteln zu verbinden. Ich will zeigen, dass Fotografie mehr sein kann als die bloße Abbildung der gegenständlichen Umwelt. Das ist geschichtlich nichts Neues, für die Neueinsteiger in Sachen Fotografie aber häufig schon. Dies und die eigene künstlerische Position zu vermitteln, macht mich durchaus zufrieden.

Du fragst nach der persönlichen Motivation. Ich denke, es ist dieselbe, wie bei allen ernsthaften Künstlern: sich mit mir selber und der Welt auseinanderzusetzen. Wenn man dann noch etwas schafft, das anderen etwas gibt, mit dem sich andere identifizieren können, dann macht man möglicherweise eine gute Arbeit. Ein wenig Selbsttherapie ist natürlich immer mit dabei. Ich hatte übrigens schon von klein auf ein Faible für die Fotografie.

Jens Pepper: Ein Fotograf, dessen Werk dich früh interessiert und das dich förmlich dazu verführt hatte, Fotografie als Beruf zu erlernen, zunächst einmal ganz klassisch, ist Arthur Tress. Was am Werk Tress‘ war so lebensbestimmend für dich?

Oliver S. Scholten: Tress hat mich zur Fotografie verführt, aber nicht dazu, diesen Beruf zu erlernen. Das geschah eher durch einen Zufall. Ich habe mich schon immer für Kunst interessiert, obwohl es vom Elternhaus und von der Verwandschaft her keinerlei Hinführung in diese Richtung gab. Ich bin über den Kunstunterricht in der Schule mit Positionen der 20er und 30er Jahre konfrontiert worden, die mich fasziniert haben. Nicht nur Fotografie, sondern auch Malerei, experimentelle Kunst und Architektur. Da ging es allerdings nicht unbedingt um Kunstgeschichte sondern um Fragen der Form und Wirkung. Später waren es dann Freunde, die Kunst an der damaligen HDK [Hochschule der Künste], heute UDK [Universität der Künste], studiert haben und zu denen ich regen Kontakt hatte. Deshalb war ich auch oft dort.

Ich hatte mich übrigens zwei Mal an der HDK beworben, wurde aber mit dem Hinweis auf eine nicht ausreichende durchschnittliche Begabung und dass ich da noch nachlegen müsse abgelehnt. Nebenbei hatte ich mich aber auch am Lette-Verein beworben und wurde ad hoc angenommen. Und da auch ein wenig Druck von zu Hause kam, nahm ich dort an. 1985 habe ich dann die Ausbildung bei Lette abgeschlossen.

Fotografie als Brotberuf hat mich allerdings nie interessiert. Mir war immer das Medium an sich wichtig. Die Ausbildung zum Fotografen hat da sicherlich einen soliden technischen Grundstein gelegt, aber ich habe mich immer als Künstler empfunden. Ich hatte einen umfassenderen Blick auf das Medium, als man das von Fotografen normalerweise gewohnt war. Ich habe dann in der Anfangszeit auch immer mehr mit Bildhauern, Malern oder Performern zusammen ausgestellt als mit Fotografen. In der Kunstwelt fühlte ich mich mehr zu Hause.

Zu dieser Zeit war ich nebenher auch an der heute legendären Werkstatt für Fotografie, die Michael Schmidt in Berlin Kreuzberg gegründet hatte. Die Dozenten dort haben mich endgültig in die eigenverantwortliche künstlerische Fotografie getrieben. Sie waren kritisch und teils unnachgiebig in ihrer Haltung. Das hat mir einiges bewußt gemacht. Dort bin ich auch mit Bildern von Arthur Tress konfrontiert worden, ebenso wie mit Werken von Diana Arbus, Ralph Gibson und Robert Frank, die alle ebenfall eine wichtige Rolle für mich spielten. Was mich geprägt und tief beeindruckt hat, war die Einfachheit diese Bilder und ihre unglaubliche psychologische Wirkung. Und dann ihre klare Bildaufteilung; nichts ist zu viel, nichts fehlt, nichts stört die Aussage, alles ist genauso, wie es sein muss. Brillant. Die Fotos konnten auch verstörend sein. Aber die Störung ist für mich ein wesentlicher Faktor in der Kunst. Wesentlich bedeutsamer als die Schönheit. Zumindest in der Moderne. Obwohl. Wir befinden uns ja bereits in der Postmoderne. Oder Post-Post-Moderne?

Jens Pepper: Als wir uns 1988 kennengelernt haben, oder war es 1989, hattest du in der Galerie Paranorm in Berlin drei Bleikuben ausgestellt, deine damals aktuelle Form der Auseinandersetzung mit dem Thema Fotografie mittels eines Objekts unter Auslassung des klassischen Bildes.

Oliver S. Scholten: Nicht ganz. Das klassische Bild war vorhanden, nur nicht sichtbar. In der Fotografie geht es, ebenso wie in der Malerei, der Literatur und im Film, immer um die Beziehung zwischen Autor und Rezipient. Bei der Rezeption von Fotografie gibt es allerdings oft das Mißverständnis, dass man meint, sie hätte im Allgemeinen etwas mit Realitätsabbildung zu tun. Dass dies nicht stimmt, sehen wir z.B. täglich in der Werbefotografie. Dass Realität abgebildet wird, gilt also lediglich für Teilbereiche der Fotografie, für die Dokumentarfotografie zum Beispiel. Genau darauf aufmerksam zu machen und aufzuzeigen, dass die Fotografie kein Einheitsbrei in bezug auf technische und ästhetische Mittel ist, lag mir damals sehr am Herzen. Das hatte wohl mit dem noch nicht lange zurückliegenden Abschluss meiner sehr kommerziell orientierten Fotografenausbildung zu tun.

Aber zurück zum Objekt „eins – fünf – null“ von 1989. Es war eine Arbeit, die ich zum 150- jährigen Jubiläum der Fotografie gemacht hatte. Drei Bleiblöcke à 150 x 150 mm – für jedes Jahr ein Millimeter – in die sechs Dias von mir eingegossen wurden. Im ersten Block war ein Dia der ersten so bezeichneten fotografischen Aufnahme von Niecephore Niepce, der „Blick aus dem Fenster“. Im zweiten Würfel waren Aufnahmen technischer Entwicklungsschritte in der Fotografie: die erste Spiegelreflexkamera, der erste Microchip in der Fotografie usw., sowie ein Dia eines Passbilds von mir. Im letzten Block war nichts, er war leer, sozusagen als Sinnbild für das, was noch kommen mag. Die Dias waren eingebettet in Metallröhren, und diese wiederum waren eingeschlossen in Kuben, die ich durch Einschmelzen von alten berliner Bleiwasserleitungen vom Schrottplatz selber hergestellt habe. Präsentiert wurden die Blöcke dann auf schmalen, rötlichen, edel wirkenden Holzstelen. Der Betrachter musste also glauben, was ich behauptete, denn sichtbar war nichts. Man hätte die Bleiblöcke nicht einmal röntgen können.

Ich habe die Arbeit übrigens tatsächlich zum ersten Mal in der Galerie Paranorm gezeigt, danach aber auch noch in zwei weiteren Ausstellungen. Einmal, ich glaube im selben Jahr, in einer Ausstellung mit den Titel „Skulptur und Fotografie“, und dann in einer Ausstellung der Senatssammlung mit dem Titel „Grafik, Malerei und Installation“. An den Titeln erkennen wir, dass der Umgang mit Fotografie in den Neunzigern viel freier war als heute, wesentlich weniger auf technischen Schnickschnack ausgerichtet. Es ging mehr um eine inhaltliche Untersuchung des Mediums. Ich finde, die Fotografie war damals den anderen Kunstgattungen gegenüber wesentlich emanzipierter, als sie es heute ist.

Jens Pepper: Du hast dich damals fast komplett der normalen Fotografie verweigert und nicht einmal private Erinnerungsfotos gemacht. Entstanden sind in dieser Zeit Objekte, Installationen, Zeichnungen, vieles davon sehr konzeptionell. Diese Arbeiten konnte man zwar auch nur aus ästhetischen Gründen mögen, aber du wolltest mit ihnen auch eine Nachricht, eine Message verkünden. Die Verpackung, wie ich es jetzt mal nennen will, war für dich vor allem Vehikel für eine tieferliegende Information. Im klassischen Sinne warst du also Künstler, denn dass man als Fotograf auch Künstler war bzw. sein konnte, das war damals ja noch relativ neu im Denken der Menschen.

Oliver S. Scholten: Wie gesagt, das hatte mit meiner klaren Distanzierung zur kommerziellen Fotografie nach meiner Ausbildung zu tun, mit meinen Kontakten zur damals jungen berliner Kunstszene und auch mit der bereits erwähnten Werkstatt für Fotografie, wo es mit Herrmann Stamm und Gosbert Adler Dozenten gab, die völlig andere Wege in der Fotografie gingen, die jede Grenze sprengten. Der Autor, das Anliegen, die Aussage waren wichtig. Die Fotografie war nur der Transporteur der Aussage, was jedoch nicht hieß, dass auf technische Qualität kein Wert gelegt wurde. Es reizte mich nicht mehr, Erinnerungen oder Umwelt einfach abzubilden. Das gab es auf Reisen an jedem Postkartenstand. Heute bedauere ich das etwas. Die Erinnerung braucht Stützen, vieles ist mir dadurch verloren gegangen. Aber das war für mich damals keine Option in der Fotografie. Heute kann ich ihre Funktionen trennen.

Ich fing an, mich dafür zu interessieren, warum Leute fotografieren; wo lag der Reiz und was war das für ein Bedürfnis? Und was für eine Rolle spielte die Bildmaschine in diesem Prozess? Ich las zu der Zeit Susan Sonntag, Roland Barthes, ein wenig Baudrillard und Flusser. Ich bin kein Literat oder Philosoph, habe mich da auch nur ansatzweise herangetastet. Ich fand es damals aber unglaublich spannend, über das Medium zu theoretisieren, wenn auch zugegebenermaßen eher dilettantisch, im positiven, eigentlichen Wortsinn. Dieser Aspekt fehlte damals in den Ausbildungen zur Fotografie völlig.

Es gab einen Satz, ich glaube, er war aus Roland Barthes „Die helle Kammer“, er könnte aber auch von Flusser gewesen sein, bitte korrigiere mich: „das fotografische Bild ist voll, es gibt nichts mehr hinzuzufügen“. Das saß! Das war wie eine Gebrauchsanweisung, eine Aufforderung, in die dritte Dimension zu gehen. Ich habe die Fotografie aber immer auch schon als einen ganzheitlichen Prozess betrachtet: die Kamera, die Aufnahme, das Entwickeln – heute die Nachbearbeitung – im Negativ- und Positivprozess, die Präsentation und auch die praktische und gedankliche Vorbereitung für ein Bild, das entstehen sollte. Einen einzigen Part davon herauszulösen oder aus der Hand zu geben, wäre mir nie in den Sinn gekommen. Mir war also klar, dass ich auch den Prozess vor der Aufnahme, während der Aufnahme und danach untersuchen wollte. Ganz im Sinne der zwanziger und dreißiger Jahre, vielleicht so wie in der Hochzeit der Bauhaus-Fotografie. Um Fotografie von allen Seiten betrachten zu können, war es für mich logisch, sie dreidimensional wahrnehmbar zu machen. Dabei war es für mich wichtig, sie in ihrer Funktion kritisch zu hinterfragen. Ich wollte definitiv nicht effekthascherisch sein oder Illusionen oder sonstwas erzeugen, wie es heute auf den Fotomessen mit all den neuen 3-D Simulationen der Fall ist.

Jens Pepper: Ob das Zitat von Flusser oder Barthes stammt kann ich dir leider auch nicht sagen. Mir waren die Theoretiker aber auch nie so wichtig. Da werden wir wohl googeln müssen oder jemanden fragen, der das alles gelesen und verinnerlicht hat. Oder du findest die Stelle in deinen Büchern wieder.

Wie hältst du das heute? Bist du inzwischen bereit ,Arbeitsprozesse zu delegieren? Du wärst nicht der einzige, der diesen Weg geht oder gegangen ist. Ich habe gerade mal wieder die großartige Mapplethorpe-Biografie von Patricia Morrisroe gelesen, in der sie ausführlich darauf eingeht, dass Mapplethorpe nie seine Abzüge selbst gemacht hat. Er hatte immer einen Laboranten beschäftigt.

Oliver Scholten: Na, dann überlassen wir einfach mal die Recherche den echten Theoretikern, die müssen ja auch beschäftigt werden. Zur Frage: da spielen einerseits die persönlichen, auch finanziellen Verhältnissen, eine Rolle, andererseits ist es eine schwierige emotionale, und dann auch eine technische Entscheidung. Die Frage ist so multiple, dass ich überlegen muss, wo ich ansetze.

Früher waren die Verhältnisse wesentlich einfacher. Man hat Farbe oder Schwarzweiß fotografiert und dann im Labor die Sachen umgesetzt oder umsetzen lassen. Farbfotografie war ein sehr statischer Prozess, während das Hantieren im Schwarzweiß-Labor eher dem Umgang mit Kochrezepten ähnelte. Viele Fotografen haben nur im Schwarzweißbereich selbst Hand angelegt, weil dort der Interpretationsspielraum sehr viel grösser war. Dies alles hat sich mit der Digitalfotografie massiv verändert. Allein die permanent durch Weiterentwicklung sich verändernden Materialien und Techniken führen zu einer stetigen Veränderung der Bildästhetik und zu einer neuen Wahrnehmung von Bildern, heute um ein Vielfaches schneller als noch vor einige Jahren. Das hat alles sehr unübersichtlich gemacht.

Momentan drucke ich für Ausstellungen alles selbst. Dies ist aber eher eine Frage des Zeitablaufs und der Kosten. Ich nutze den schnellen Marktwertverfall von Technik und arbeite immer mit Geräten der letzten Generation oder davor, was für mich Kostenvorteile in der Anschaffung hat. Die Verwendung älterer Technik schadet den Inhalten der Bilder nicht. Der Besitz der Technik gibt mir zudem die Möglichkeit ad hoc zu arbeiten und Dinge auszuprobieren. Ich kann alles direkt und sofort machen, ohne dass ich mit einem Angestellten oder einem Mitarbeiter einer Firma Sachen besprechen muss. Ausserdem muss jemand, den man beschäftigt, auch bezahlt werden.

Wenn Verkäufe, oder eine grosse Produktion für ein Bild oder ein Objekt anstehen, dann gebe ich das natürlich auch in qualifizierte oder gar qualifiziertere Hände. Es ist ja eine Illusion, dass der Autor alles selbst machen kann oder muss, egal in welchem Bereich. Ich arbeite allerdings sehr gerne mit den eigenen Händen und Apparaten. Wenn ich es mir leisten könnte, würde ich allerdings mehr Prozesse abgeben. Dann hätte ich mehr Zeit zum Fotografieren und auch mal zum Ausspannen.

Jens Pepper: In den letzten Jahren hast du dich wieder mehr dem klassichen Bild zugewandt, beispielsweise dem Selbstportrait oder einer Serie, die du „Splash“ bezeichnest, und in der du die frischen Spuren u.a. von zeborstenen Flaschen, fallengelassenen Eiern oder von Erbrochenem dokumentierst, das Auseinanderspritzen fallengelassener Dinge eben. Das schöne Bild ist immer noch nicht dein Ding, oder?

Oliver S. Scholten: Na ja, wie wir wissen, liegt die Schönheit im Auge des Betrachters. Gerade in den letzten Jahren hat sich ein Trend in der Fotografie entwickelt, verlassene und desolate Orte zu zeigen. Vielleicht ist das eine Reaktion auf die immer glatter und technisch perfekter werdende Umwelt. Diese Bilder werden dann allerdings meist massiv durch diverse Fotofilter gejagt und zu Tode verkitscht. Ich halte es da lieber mit der realen Darstellung und ihrer Interpretation, wie zum Beispiel in meiner fortlaufenden Serie „a perfect world“. In diesen von mir oft ironisch gewählten Zusammenhängen, ich füge ja immer zwei oder mehr Motive zu Diptychen oder Triptychen zusammen, gibt es auch schöne Bilder, wie ich finde. Bildgestaltung und Bildaufteilung folgen ja gewissen Regeln. Und der eine denkt beim Anblick von einem Rind auf einer Wiese an eine heile Bauernwelt, der andere an ein Steak. Die Bildwahrnehmung hat also vor allem auch etwas mit der Psyche des Betrachters zu tun.

Ich zitiere mich einfach mal selbst: „Ich bin weniger zuständig für das Schöne, sondern eher für das Unangenehme, das im Schafspelz daherkommt und so tut, als wäre nichts gewesen.“ Natürlich gilt nichts für immer und ewig. Ich bin zwar auf der Suche nach Harmonie und Schönheit, aber irgendwie sehe ich immer die Störung. Und wie ich schon vorhin sagte, interessieren mich diese Störungen auch. Sie machen einem bewusst, dass nichts selbstverständlich ist. Wie sagte Robert Häusser einmal?: „Ich mag den Sonnenuntergang sehen und erleben, aber ich muss ihn nicht fotografieren.“

Jens Pepper: Erzähle mir was über die Serie „a perfect world“.

Oliver S. Scholten: Die Reihe „a perfect world“ ist reine Dokumentarfotografie, verhaftet im Subjektivismus. Das heißt, dass sie beispielsweise mit der als so typisch deutsch verorteten Dokumentarfotografie der Bechers nichts zu tun. Es sind zum Teil brutal subjektiv fotografierte Ausschnitte aus meinem ganz persönlichen Alltag. Diese haben in ihrer Art aber einen Symbolcharakter für soziale Ereignisse, psychische Zustände oder zufällige Begebenheiten des alltäglichen Seins, wie sie zeitgleich überall vorkommen. So sind die Arbeiten einerseits persönlich, andererseits aber auch allgemeingültig. Jeder Mensch lebt für sich allein, doch werden Erfahrungen und Erlebnisse ähnlicher Art jeden Tag tausendfach gemacht. Um dieses Spannungsfeld der ganz persönlichen und gleichzeitig allgemeinen Erfahrung sichtbar zu machen, ist die Serie „a perfect world“, wie schon gesagt, in Diptychen, manchmal auch in Triptychen, angeordnet. Das sind sozusagen zwei Pole, die sich beeinflussen, die Spannung erzeugen oder abmildern. Ort und Zeit sind in diesen Arbeiten nicht entscheidend, nur der inhaltliche Zusammenhang zählt. Ralph Gibson hat in den achtziger Jahren ähnlich gearbeitet, aber nahezu ausschliesslich in Schwarzweiß. Das hat mich damals sehr beeinflusst. Das habe ich für mich weiterentwickelt und in der Aussage radikalisiert. Ich mache die dafür verwendeten Aufnahmen, alle ausschließlich in Farbe, mit einer sehr kleinen, kompakten Digitalkamera, die ich fast immer und überall bei mir haben kann. Die Ergebnisse sind dann allgemeingültige Kurzgeschichten mit einem persönlichem Ansatz.

Jens Pepper: Du unterrichtest, wie schon erwähnt, seit über 30 Jahren an der VHS Kreuzberg, am Photocentrum, das aus der Werkstatt für Photographie von Michael Schmidt hervorgegangen ist. Das, was es mal war als Werkstatt, ist das Photocentrum heute natürlich nicht mehr, aber ihr Dozenten seht euch schon in einer gewissen Tradition und versucht das Niveau der Ausbildung hoch zu halten, definitiv höher, als man es von einer VHS erwarten würde. Kommt das an, bei den Kursteilnehmern? Und habt ihr da auch Rückendeckung seitens der Verwaltung; trägt diese euer Engagement mit, dass ihr nicht nur das 1 x 1 der Kamerahandhabung und der Labortechnik als Bespaßungsmaßnahme vermitteln wollt?

Oliver S. Scholten: Mit dieser Frage rührst du auch noch nach Jahrzehnten an verschiedenste Befindlichkeiten. Die Werkstatt für Fotografie von Michael Schmidt hatte sich, nachdem er anfing sich persönlich rauszuziehen, massiv verändert. Es gab damals verschiedene Auffassungen wie die Werstatt weiterzuführen sei. Was die Werkstatt auszeichnete war, dass einige heute sehr berühmte Fotografen wie Robert Frank und Diane Arbus hier ihre Bilder zeigten und teilweise auch Workshops gaben. Die Werkstatt in dieser Zeit war in bezug auf die eigentliche VHS sehr autonom und galt auch als etwas elitär. Das hat dann letzten Endes zu Ihrem Aus geführt, was von Seiten der VHS ausging. Genauer möchte ich darauf nicht eingehen, das ist zu komplex. Dieses Thema wird hoffentlich auch in der Ende des Jahres bei C/O Berlin stattfindende Ausstellung über die Werkstatt angeschnitten.

Interessant ist, dass diese besondere Qualität, die anspruchsvollere Herangehensweise in der Lehre, jenseits von visueller Unterhaltungsindustrie, auch uns als Nachfolger immer noch anhaftet: Was für die einen ein Qualitätsmerkmal ist, ist für die anderen ein Makel. Wir galten und gelten immer noch als irgendwie arrogant. Peter Held hatte die letzten Jahrzehnte als Fachbereichsleiter Fotografie unseren immer noch irgendwie als Staat im Staate wahrgenommenen Bereich gegen die verschiedenen VHS-Leitungen verteidigt, die alles etwas „Normaleres“ wollten. Nun haben personelle Wechsel stattgefunden und langsam setzt sich, endlich, ein Bewußsein für die Qualität und auch Einzigartigkeit dieses Bereichs innerhalb der VHS durch. Im Rahmen dieser Neuorientierung wird es zum ersten Mal nach 30 Jahren eine gemeinsame Ausstellung der Dozenten des jetzigen Photocentrums geben. Viel zu spät, aber gut. Ausstellungen mit Kursteilnehmern hatte es hingegegen immer wieder gegeben, was auch gut bei diesen ankam. In dieser Hinsicht war Kreuzberg immer besonders. Einige dieser Hörerausstellungen konnten und können mit professionellen Ausstellungen in Galerien oder gar Museen dieser Stadt durchaus mithalten und brauchten und brauchen einen Vergleich nicht zu scheuen.

Derzeit verändert sich allerdings gerade die Hörerschaft. Da in unserer Gesellschaft alles immer schneller, kurzlebiger und mobiler wird, lässt bei manchen auch die Fähigkeit zu einer notwendigen, oft zeitaufwändigen Auseinandersetzung mit einer Thematik nach. Etliche Kursteilnehmer verspüren auch gar keinen Wunsch mehr, tiefer in eine Materie einzutauchen. Die Hörer wollen heute oft schnelle Ergebnisse. Alles ist sehr viel unverbindlicher geworden; das macht das Lehren sehr schwierig. Und dann muss man natürlich zugeben, dass heute an der VHS die meisten Hörer, zumindest am Anfang, die Fotografie nur als Hobby sehen. Ich sehe aber auch, dass es gleichzeitig wieder eine Sehnsucht nach dem haptischen Analogen gibt.

Jens Pepper: Wohin wird dich dein Weg als Fotograf führen?

Oliver S. Scholten: Hm, ein wenig provokant, diese Frage. Visuell oder visionär? Natürlich weiß ich das nicht oder kann es auch nicht vorhersehen. Das hängt von verschiedenen Faktoren ab, die nicht meiner Kontrolle unterstehen. Aber generell weißt du ja, dass ich mich nicht allein als Fotograf empfinde, sondern als jemanden, der auch von der Kunstseite her auf dieses Medium schaut und versucht, es zu verstehen. Das unterscheidet mich von vielen anderen Fotografen und auch von vielen Künstlern, die Fotografie als Werkzeug nutzen.

Ich kann ebenso wenig wie andere in die Zukunft sehen, allerdings kann ich sagen, das sich die Bedingungen in diesem technischen Medium ständig verändern werden und das dies dann auch Einfluss auf den Umgang der Fotografen damit haben wird. Mich persönlich interessieren vor allem Veränderungen des öffentlichen Umgangs mit Fotografie und mit fotografischen Bildern, und zwar sehr viel mehr als die ständig neuen Technologien, die permanent auf den Markt kommen.

Wohin führt der Handykameraboom? Wird es bald keine „echten“ Kameras mehr geben? Hat das flache Bild ausgedient? Verliert die Fotografie ihre Haptik? Gibt es eine Retro-Gegenbewegung, die überleben wird ? Wie reagiert die Industrie auf die übriggebliebenen Analogfans? Das sind alles Fragen, auf die ich nicht antworten kann ohne unseriös zu wirken. Ich kann nur auf das reagieren, was da ist. Und das mache ich.

Das klassische, fotografische 2D-Standbild, analog oder digital, wird auf jeden Fall nicht aus meinem Leben verschwinden. Und auch Objekte könnten künftig in meiner Arbeit wieder eine Rolle spielen. Dann werde ich vielleicht wieder kuratieren,Vorträge halten und eventuell auch wieder eine kleine temporäre Galerie und ein Werkatelier für Fotografie betreiben, wie ich sie in den vergangenen Jahren im Wedding hatte und wo ich Kollegen und Talente gezeigt sowie privat unterrichtet habe. Auch als Dozent, z. B. am Photocentrum, werde ich sicherlich weitermachen.

Oliver S. Scholten

Oliver S. Scholten ist gebürtiger Berliner.
Er lebt, fotografiert und unterrichtet seit
30 Jahren in seiner Geburtsstadt.

www.position-fotografie.de

Polaroid by pepper.

„Ich baue an einer Bibliothek“ – Christian Reister im Gespräch mit Josef Chladek über sein Virtual Bookshelf

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Christian Reister: Josef – dein Virtual Bookshelf umfasst mittlerweile über 1800 Fotobücher. Jedes einzelne hast du in Auszügen fotografiert, kategorisiert und beschrieben. Unter Fotobuchliebhabern ist deine Website so zu einem wichtigen Recherchetool geworden. Erzähl doch mal, wie das ganze anfing.

Josef Chladek: Angefangen hat das in Wahrheit vor mehr als 20 Jahren. Ich hatte schon sehr früh begonnen, meine Bücher zu erfassen, in erster Linie Literatur und Politik, weniger Kunst und Fotografie. Über die Jahre hat sich dann der Fokus immer stärker zu Fotobüchern verlagert, ohne zu wissen, dass das ein eigenes Genre ist. Anfänglich war das eine rein textbasierte Datenbank, die aber für das schnelle Nachschlagen durchaus ausreichend war. Mit der Zeit wurden jedoch die Computer leistungsfähiger und damit auch mein Wunsch, die Bücher online zu sehen. Zuerst war es nur das jeweilige Cover, das ich mit ablegte, aber das ist natürlich zu wenig „Buch“; also begann ich systematisch die Bücher auch mit Rückseite und Rücken zu scannen. Von da an war es nur mehr ein kleiner Schritt, um eine adäquate Repräsentation zum echten Regal zu finden. Programmierung und Umsetzung der Offline-Datenbank zu der nun laufenden Seite waren dann in knapp zwei Wochen realisiert.

Christian Reister: Alle Bücher im Virtual Bookshelf sind also auch physisch in deinem realen Buchregal vorhanden? Und andersrum: sind alle deine Fotobücher in der Online-Datenbank archiviert oder ist das nur ein ausgewählter Teil? Falls ja, nach welchen Kriterien wählst du sie aus?

Josef Chladek: Bis auf etwa 30, 40 Bücher sind sie auch im echten Regal vorhanden. Ich hinke mit dem Erfassen immer etwas hinterher, auch habe ich eine sogenannte Halde, wo ich die mir wichtigeren Bücher zurückhalte und je nach Freude dann beim Veröffentlichen einstreue. Wie überhaupt es keinen Plan gibt. Welches Buch wann drankommt ist einfach eine Sache der Tagesverfassung. Manchmal ergibt sich ein inhaltlicher Faden, aber oft ist das pure Anarchie. Und ich habe zwar alle Bücher in der Datenbank, aber nur knapp die Hälfte ist online sichtbar, die Fotobücher jedoch beinahe komplett. Literatur und andere Sparten harren noch der Veröffentlichung.

Christian Reister: Nach welchen Kriterien sammelst du Fotobücher?

Josef Chladek: Ich mag ja den Begriff sammeln weniger; ich würde eher sagen, ich baue an einer Bibliothek. Und die Kriterien sind da ganz einfach: das persönliche Gefallen steht im Vordergrund. Das kann auf der gestalterischen Seite das Layout, das Papier und der Druck sein, es kann rein fotografisch sein oder einfach dann, wenn das Buch eine gute Geschichte erzählt. Es gibt da also kein Patentrezept, wiewohl mein Fokus immer schon auf ausdrucksstarker oder auch dreckiger Schwarz/Weiss Fotografie lag und liegt.

Christian Reister: …wo sich unsere Vorlieben überschneiden: Ich habe mich gefreut wie in Kind, als ich bei dir letztes Jahr Originalausgaben von William Klein und von den Japanern der Provoke-Ära durchblättern durfte. Das sind ja zum Teil recht teure Stücke, die es nicht an jeder Straßenecke gibt. Verrätst du uns ein paar Quellen, woher du deine Bücher beziehst?

Josef Chladek: Das sind endlos viele Quellen: das geht von klassischen Auktionen und Internet-Auktionen, da auch ebay oder yahoo in Japan, über Antiquariats-Plattformen, Such-Agenten (auch selbst programmierte), bis hin zu Händlern des Vertrauens, Freunden oder zufällige Facebook- oder Instagram-Bekanntschaften. Alles ist dabei. Und gekauft wird nur, wenn der Preis auch durch eigenes Know-How abgesichert ist. Die ganzen Phantasiepreise, die auch für neue und neueste Bücher, aber vor allem bei älteren Büchern verlangt werden, da gibt es ja praktisch nie Käufer für.

Christian Reister: Handelst du selbst auch? Man könnte ja fast meinen, das sei dein Hauptjob.

Josef Chladek: Nein, die Site ist eine reine Präsentations-Plattform. Da ich auch niemals ein Buch doppelt kaufe, gibt es auch keine Absicht, das in der Zukunft zu ändern.

Christian Reister: Du bekommst auch Bücher geschickt. Vor allem von Self-Publishern schätze ich. So kommt es, dass ehrwürdige Klassiker direkt neben ganz jungen Fotografen in deinem virtuellen Regal stehen. Sicher wählst du auch dort nach eigenen Gusto aus, was präsentiert wird und was nicht. Kannst du sagen, was besonders willkommen ist und was nicht?

Josef Chladek: Das Online-Stellen jedes einzelnen Buches, Zines oder Heftes nimmt doch sehr viel Zeit in Anspruch, Scannen, Spreads abfotografieren, bibliografische Details in der Datenbank erfassen – ganz egal wie erfolgreich, neu, teuer, rar, gut oder schlecht ein Werk auch sein mag, jedes benötigt ca. die gleiche Zeit bzw. Aufmerksamkeit. Ich ertappe mich natürlich dabei, die Besseren lieber zu machen. Schlussendlich entfaltet das Shelf, glaube ich, seine Stärke durch die Vielfalt und nicht durch meine subjektive Auswahl. Gut, es gibt sicher Bücher, die es nicht schaffen online gestellt zu werden, aber da müssen sie schon echt erbärmlich sein. Von daher ist praktisch alles willkommen, was das Stadium des selbstgebauten Dummys verlassen hat und eine professionelle Linie in der Buchgestaltung genommen hat. Blurb-Bücher mag ich jedoch so gar nicht, wiewohl ich da auch Großartiges erhalten habe. Das sind dann aber eher konzeptionelle Arbeiten.

Christian Reister: Vorhin hast du deine Vorliebe für dreckige Schwarz/Weiss-Fotografie angesprochen. Wie definierst du in diesem Zusammenhang dreckig? Wie erklärst du dir deine besondere Vorliebe für Bücher dieser Art und welche sind für dich ganz persönlich die wichtigsten dieser Art?

Josef Chladek: Ich mag es unscharf, körnig, in Bewegung, ich mag die Nacht, Randthemen, Unbeachtetes, setze keinen Fokus auf Perfektion und Technik, suche Ausdruck und Kraft statt übertriebene Ästhetik. Warum das jedoch so ist, kann ich schwer beantworten, aber es zieht mich meist mehr an als das perfekte Großformat-Bild. Und natürlich muss man da die Provoke-Era und deren Protagonisten nennen, aber auch William Klein, Moi Ver und viele andere, die für mich mitunter aber nicht auschließlich die besten Bücher gemacht haben. Doch vorneweg wird wohl immer „For a Language to Come“ von Takuma Nakahira von mir genannt werden, das Buch ist einfach unerreicht.

Christian Reister: Fotografierst du auch selber? Die meisten Fotobuchfreaks sind ja selbst mehr oder weniger mit dem Buchmachen zugange.

Josef Chladek: Nein, ich hatte vor beinahe 30 Jahren eine intensive Phase wo ich sehr viel in der Dunkelkammer stand, Schwarz/Weiss und Farbe. Ich hatte aber das Gefühl gehabt, dass andere das weitaus besser können und habe dann lieber mein Physik-Studium fertig gemacht. Seitdem ist die aktive Fotografie kein Thema mehr für mich.

Christian Reister: Welche neuen Bücher sind deine persönlichen Highlights vom diesjährigen Vienna Photobook Festival?

Josef Chladek: Speziell gefallen haben mir Robert Zhao Renhui mit „Mynas“, Christine Miess mit „Time Collapsing“, John Gossage mit „A Dozen Failures“, Arthur Bondar mit „Shadows of Wormwood“, Florian van Roekel mit „Le Collège“ sowie Michel Mazzoni mit „Collisions“. Und mit van Roekel ist sogar ein Buch in Farbe dabei.

Christian Reister: Josef, vielen Dank für das Gespräch und weiterhin viel Erfolg beim Ausbau des Virtual Bookshelf.

Klaus Honnef

Das Gespräch wurde 2016 per Email geführt.
Das Virtual Bookshelf findet sich unter josefchladek.com
Besonders imposant ist die Ansicht des kompletten Regals

Fotos: Kay von Aspern

„Dass er bestochen werden und mir Angst einjagen wollte, wurde mir erst hinterher so richtig bewusst.“ – Jens Pepper im Gespräch mit Janine Graubaum

Foto: Janine Graubaum, aus Kosmos Train

 

Jens Pepper: Ich muss gestehen, dass du mir als Fotografin bis vorhin, als ich einen Artikel über dein Buch „Kosmos Train“ auf Spiegel Online gelesen habe, nicht bekannt warst. Mir hat aber die Idee, monatelang mit alten Zügen aus der Sowjetzeit durch Russland, Weißrussland, Moldau, die Ukraine usw. zu reisen und diese Fahrten fotografisch zu dokumentieren, sehr gefallen. Vielleicht, weil ich derzeit auch ein großes Interesse an Osteuropa habe. Und wohl auch, weil ich diese Idee von einem Roadtrip sehr sympathisch finde. Ich habe das Buch noch gar nicht real in den Händen gehalten, sondern kenne nur die Fotos aus dem Internet, so auch das kleine Video, in dem einmal schnell durch das Buch geblättert wird. Es ist eine sehr intensive Publikation, die sehr auf Atmosphäre setzt. Aus wie vielen Aufnahmen wie vieler Reisen hast du letztendlich die Bilder für „Kosmos Train“ ausgewählt?

Janine Graubaum: Ich habe nie alle Bilder gezählt die ich geschossen habe. Da ich aber digital fotografiert habe, waren es unglaublich viele. Ich war 2008 auf meinen ersten beiden Reisen mit dem Zug gen Osteuropa unterwegs. Auf diesen Reisen entstand die Idee, erstmal über das Zugreisen in Osteuropa eine Arbeit zu machen. Von diesen beiden Reisen haben es am Ende insgesamt fünf Bilder ins Buch geschafft. Ab 2013 machte ich dann bis 2015 sieben weitere Reisen, immer ca. drei bis vier Wochen quer durch Osteuropa. Diese sieben Reisen waren gezielt für das Projekt geplant.

Aus wie vielen Bildern ich dann am Ende insgesamt ausgewählt habe ist schwer zu sagen…und da ich, wie du auch an der Arbeit erkennst, eher eine emotionale und weniger eine technische Fotografin bin, möchte ich mich jetzt auch nicht hinsetzen und das durchzählen. Ich hoffe, das verstehst du.

Jens Pepper: Wie ist dein Interesse an diesen Reisen entstanden?

Janine Graubaum: Mein Interesse ist auf meinen ersten beiden Reisen 2008 nach Russland und dann Transnistrien geweckt worden.

Beide Reisen unternahm ich damals mit dem Zug, aber aus anderen Gründen. Nach Russland bin ich mit einer Jugendgruppe gefahren. Ich sollte damals einen Jugendaustausch, ein Projekt in Kooperation mit „Zwanzig Zoll Media“ und dem Streetworker Verein „Gangway“ fotografisch dokumentieren. Wir sind damals von Moskau bis Izhevsk, Udmurtien mit dem Nachtzug gefahren. Da ich schon immer einen großen Faible für Osteuropa und alles altsowjetische hatte, blühte ich in diesem Zug richtig auf. Schon damals spürte ich, dass in diesem Zug für mich eine besondere Welt existiert und ich war die ganze Zeit wach, lief den ganzen Zug einmal von vorne bis hinten und wieder zurück ab. Ich wollte alles entdecken was es zu entdecken gab. Ich war einfach fasziniert von diesem russischen Schlafwagen.

Einen Monat später ging es dann mit zwei Freunden für eine private Reise nach Transnistrien. Damals war das Land noch nicht so sehr touristisch von Backpackern erschlossen bzw. entdeckt wie heute. Meine beiden Kumpels, Till und Gil, studierten damals Filmkamera an der HFF und waren genauso begeistert vom Wilden Osten wie ich. Also buchten wir von Berlin aus Zugtickets in die Ukraine, von dort ging es weiter bis nach Chisinau in Moldawien. Alles mit dem Zug. Schon der Grenzübertritt von Polen in die Ukraine war extrem spannend. Da die Spurweiten ab der Ukraine unterschiedlich sind, wurde unser Zug in eine riesige Halle gefahren, alle Wagons wurden angehoben während wir drin waren und die Radachsen inklusive Räder wurden gewechselt. Quasi von Hand! Von mehreren Arbeitern mit schwerem Eisenwerkzeug. Ich fand es damals wahnsinnig aufregend. So roh, dreckig und echt.

Dann stiegen wir in der Ukraine in einen moldawischen Nachtzug. Auf der Strecke nach Chisinau kamen Händler aller Art in die Wagons und verkauften alles was man so brauchte oder auch nicht brauchte. Von Lebensmittel- über kleine Elektronikgoodie-Händler bis hin zu Geldwechslern war alles dabei. Auf den längeren Stopps ,an einigen Bahnhöfen, taten sich kleine, temporäre Minimärkte auf. Frauen aus dem Dorf oder Ort verkauften selbst gemachte Backwaren, Bier und gräucherten Fisch. Ich fand es fabelhaft. So einfach, so bunt und so menschlich war das ganze Geschehen.

Ich hatte mich verliebt in diese Züge, in diese kleinen Mikrokosmen, die immer wieder aufplopten.

Diese Erlebnisse haben mich dann über die nächsten Jahre lange begleitet und ich trug die Idee daraus ein Projekt zu machen schon lange in mir.

Jens Pepper: Als du das erste mal die Zuggänge entlangliefst, warst du da befangen, oder trautest du dich von Anfang an, auch die Mitreisenden in allen Situationen zu fotografieren. Es ist ja nicht leicht, in einem fremden Land, umgeben von einer fremden Sprache, einfach so mit der Kamera draufzuhalten.

Janine Graubaum: Es ist nie einfach, völlig fremde Menschen in der Öffentlichkeit zu fotografieren. Wenn ich dokumentarisch fotografiere, möchte ich meinen Portraitierten mit möglichst viel Respekt für ihre Person entgegen treten. D.h., ich fotografiere nie aus der Hüfte oder verstecke mich mit der Kamera. Ich versuche immer möglichst offen mit der Kamera unterwegs zu sein. Natürlich gab es oft Situationen in denen ich mich etwas befangen gefühlt habe, oder es selber komisch gefunden hätte, jetzt einfach drauf los zu fotografieren. Andererseits geht es bei der dokumentarischen Fotografie immer um den Moment, und manchmal muss man dann eben einfach die Kamera heben und fotografieren und schauen, wie die Person reagiert. Oft versuche ich aber mit den Menschen vorher Kontakt aufzunehmen, mich mit Ihnen zu unterhalten und sie an die Kamera zu gewöhnen. Wenn dir die Leute vertrauen, kannst du viel vertrauensvollere und ehrlichere Bilder schießen. Das ist mir in meiner Fotografie sehr wichtig. Auch, um Ihnen damit den nötigen Respekt entgegen zu bringen und sie nicht einfach bloß zu stellen. Mit vielen Menschen in meinen Bildern habe ich einige Zeit verbracht. Manchmal Stunden, manchmal Tage. Einige Bilder sind aber auch in einer tollen Situation entstanden, in der ich einfach fotografiert habe. Manchmal fühle ich mich dabei wohl, weil ich merke, dass es den Menschen nichts ausmacht ,oder ihnen sogar gefällt. Manchmal fühle ich mich aber auch unwohl, dann versuche ich die Situation anders anzugehen, sie zu verändern, oder ich lasse es bleiben zu fotografieren. Da ich selber nicht gern einfach so fotografiert werde, ist es mir wichtig dies auch in meiner dokumentarischen Fotografie zu berücksichtigen. Es gab zum Beispiel eigentlich ein No go für mich: Schlafende Menschen zu fotografieren. Nun sind in meinem Buch trotzdem zwei Bilder mit schlafenden Menschen. In diesen Situationen habe ich etwas sehr schönes gesehen und konnte nicht anders als diese Bilder zu schießen. Beide Bilder stellen für mich keine Bloßstellung der Personen dar und man erkennt sie auch auf beiden Bildern eher schwer. In solchen Momenten muss man dann abwegen. Das muss jeder Fotograf für sich entscheiden.

Menschen einfach so zu fotografieren ohne sie vorher zu fragen, braucht aber auf jeden Fall Übung. Man lernt irgendwann, wann es ok sein könnte, man interagiert mit den Menschen und spricht hinterher mit ihnen und erklärt eventuell die Situation. Wenn man mit der Sprache nicht weiter kommt, hilft oft ganz einfach Menschlichkeit. Mit Mimik den Personen verstehen geben das es ok ist, das man nichts schlechtes will. Sympathie funktioniert auch ohne Worte.

Jens Pepper: Gibt es nationale Unterschiede, wenn du in den Zügen und auf den Bahnhöfen fotografierst? Also, reagieren die Menschen in den verschiedenen Ländern unterschiedlich? Und gibt es Gesetze, die die eine oder andere Aufnahme in bestimmten Ländern erschweren oder gar verhindern, zum Beispiel, weil ein Ort oder ein Gebäude als militärisch wichtig gilt?

Janine Graubaum: Ja, es gibt durchaus Unterschiede in den verschiedenen Ländern. Man kann wirklich sagen, je wärmer das jeweilige Land, desto einfacher ist es zu fotografieren bzw. desto offener und freundlicher sind die Menschen.

In Weißrussland beispielsweise ist es offiziell nicht erlaubt auf Bahnhöfen zu fotografieren. Man sieht sehr viel Polizei auf den Bahnhöfen und einmal wurde ich abgemahnt, weil ich auf einem Bahnhof einfach über die Gleise zum nächsten Bahnsteig gelaufen bin, um eine Situation zu fotografieren, die sich schnell hätte auflösen können. Die Kamera, die ich dann schnell unter meine Jacke gesteckt habe, hat der Polizist dann aber nicht bemerkt. Auch die Passanten und Reisenden sind im allgemeinen sehr misstrauisch. In Weißrussland hatte ich das Gefühl, dass man bloß nicht auffalllen möchte und jeder möglichst schnell seiner Wege geht.

In der Ukraine ist es offiziell erlaubt auf den Bahnhöfen zu fotografieren. Trotzdem versuchen es Polizeibeamte, die auch hier stark vertreten sind, immer wieder, etwas für sich raus zu schlagen. Einmal nahm mir ein Beamter den Pass und das Ticket ab und führte mich in sein kleines Polizeibüro. Dort saßen wir 20 Minuten und führten ein absurdes Gespräch über meinen Aufenthalt in der Stadt, warum ich acht Stunden auf den nächsten Zug warten muss, und warum ich in der Stadt spazieren gehe. Ich solle doch lieber den Bus nehmen. „Ich gehe halt gern spazieren und außerdem habe ich acht Stunden Zeit“, entgegnete ich. Nach 20 Minuten gab er mir meine Unterlagen wieder und führte mich zur nächsten Bushaltestelle. Dass er bestochen werden und mir Angst einjagen wollte, wurde mir erst hinterher so richtig bewusst.

Anders ist es an Bahnbrücken in der Ukraine, die immer noch stark militärisch bewacht werden. An einem Abend wollte ich eine kleine wunderschöne Hütte am Ende einer Brücke, auf einem Bahndamm fotografieren. Dazu musste ich über eine Wiese, an deren Anfang ein kleines Tor stand mit einem Schild, welches ich bewusst ignorierte und durch das kleine Tor lief. Es war schon recht dunkel und ich wollte die Hütte mit einer Langzeitbelichtung und Stativ fotografieren. Erste Fotos machte ich schon von der Wiese aus. Plötzlich fing ein Hund an zu bellen und aus einem Haus unterhalb der Brücke kam eine Gestalt mit Taschenlampe auf mich zu. Diese richtete die Taschenlampe auf mich, so lange, bis sie einen Meter vor mir stand und befahl, zu verschwinden, die Kalaschnikow über der Schulter hängend. Später sah ich in meinen Bildern, dass auch oben an der Brücke ein Soldat mit Kalaschnikow stand und mich schon die ganze Zeit beobachtet hatte.

Und wieder anders ist es in der Balkangegend zu fotografieren. Meist sind die Menschen sehr offen und freundlich und interessieren sich für dich. Sie posen oder lassen dich machen oder laden dich auf ein Getränk ein. In Albanien verbrachte ich mehrere Tage an bestimmten Bahnhöfen und lernte die Angestellten kennen. Das waren sehr schöne Bekanntschaften, wir haben viel erzählt und gelacht. Auch unter den Passagieren und Passanten gab es wenig Misstrauen mir gegenüber. Das war im Vergleich zu manchen Situationen in der Ukraine sehr erfrischend und ich fühlte mich freier zu fotografieren.

Alles in allem habe ich auf meinen Reisen aber immer sehr tolle Bekanntschaften gemacht.

Jens Pepper: Womit hast du auf deinen Reisen fotografiert? Und welche fotografische Ausrüstung hast du noch mitgenommen?

Janine Graubaum: Ich hatte eine Canon 5D Mark III dabei und habe fast ausschließlich mit einem lichtstarken 35 mm Objektiv fotografiert. Zusätzlich hatte ich noch ein kleines Reisestativ von Manfrotto dabei. Und zur Sicherheit immer ein 28er und ein 50er Objektiv, habe aber beide fast nicht benutzt.Zum Datensichern war ein Mini Acer Netbook dabei. Ich wollte möglichst frei von unnötigem Equipment sein.

Jens Pepper: Die Mark III ist ja noch nicht so lange auf dem Markt. Hast du davor mit dem Vorgängermodell gearbeitet, oder ein ganz anderes System benutzt?

Janine Graubaum: Die Mark III hatte ich damals schon etwa ein bis zwei Jahre. Davor hatte ich in der Tat mit einer Canon 5D Mark I gearbeitet. Und davor mit einer analogen Canon EOS und einer Yashica mit einem 50mm/1,4. Eine Zeit lang hatte ich auch mal eine Mamiya RB 67. Diese ist mir für meine Arbeit aber etwas zu klobig und unflexibel geworden. Ich mag es leicht und schnell. Mittlerweile können die digitalen Mamiyas und PhaseOne da aber auch mithalten.

Jens Pepper: Hast du Vorbilder gehabt, also Fotografen, die dich inspiriert haben?

Janine Graubaum: Ja, Joakim Eskildsens Arbeit finde ich wunderbar, besonders die „Romareisen“. Er hat einen wunderschönen Bildstil und geht sehr gefühlvoll mit den Farben um. Auch Martin Parrs Arbeiten vom Brighton Beach bewundere ich sehr. Diese sind sehr intensiv und man spürt, dass er mittendrin ist und manchmal auch ganz unsichtbar scheint.

Jens Pepper: Viele Fotografen entwickeln einen Stil, der zu ihnen passt, der ihnen liegt. Das ist dann ihr Markenzeichen und oft sofort als der ihre zu erkennen. Das kann spannend sein, insb wenn dieser Stil sich entwickelt. Bei manchen Fotografen wird der Stil ein ganzes Fotografenleben ohne große Variationen durchgezogen. Das kann dann schnell langweilig werden, auch wenn der Kunstmarkt das oftmals gerne hat. Wie hältst du es als junge Fotografin? Wie wichtig ist es dir, einen eigenen Stil zu entwickeln?

Janine Graubaum: Ein fotografischer Stil ist natürlich wichtig. Auch für mich. Ich glaube aber, es gibt mindestens zwei Wege solch einen zu generieren. Entweder man übt ganz bewusst und arbeitet daran, oder er entsteht über die Jahre und mit wachsender Erfahrung von ganz selbst. Bei mir ist es, denke ich, eher letzteres. Dennoch hinterfrage ich meine Art zu fotografieren immer wieder mal. Ich würde von mir selber nicht behaupten, dass ich einen starken eigenen Stil habe. Es gab aber schon Leute, die mir sagten, dass man meine Fotografie wiedererkennt. Ich arbeite ja in sehr unterschiedlichen Bereichen der Fotografie, im Kommerziellen zum Beispiel eher im Werbe- und Peoplebereich. Inzwischen mache auch immer mehr Bewegtbild, und dann ist da noch meine starke Liebe zur Dokumentarfotografie. In allen Bereichen arbeite ich ähnlich, aber mit unterschiedlichen Ansätzen, und daher kann der Stil auch variieren. Für die nächsten Jahre möchte ich mich aber ein wenig mehr spezialisieren und noch mehr an einem eigenen Stil arbeiten. Ich denke, dass ein eigener Stil wichtig sein kann, um sich von der Masse an Fotografen, die es ja immer mehr gibt, abzusetzen und dauerhaft von der Fotografie leben zu können.

Jens Pepper: Über Stil im Werk eines Fotografen muss ich irgendwann mal ein separates Interview führen, mit einem Kurator oder Kritiker. Ich finde das Thema sehr interessant, weshalb ich dich ja auch gefragt habe. Ich sehe Stil als festlegendes Element eher kritisch. Erst gestern habe ich das Buch „Bonkers“ von Bettina Rheims gesehen, das ca. 2014 erschienen ist. Das ist stilistisch ziemlich gleich wie „Chambre Close“ vom Anfang der 1990er Jahre. Ich fand das deshalb auch eher langweilig, obwohl es natürlich absolut solide Fotografie ist. Ich weiß, dass viele Kunden diese Wiedererkennbarkeit wollen. Ich habe das bei dem Künstler Anselm Reyle persönlich erlebt. Der hat vor ein paar Jahren, trotz Welterfolgs, aufgehört Kunst zu machen. Er hat ganz radikal seinen riesigen Atelierbetrieb aufgegeben, in dem zeitweise bis zu 50 Mitarbeiter tätig waren. Da fast alle Sammler aus allen Ecken der Welt immer nur seine berühmt gewordenen Folienbilder, vor allem die Reliefs haben wollten, hatte er einfach keine Lust mehr. Ihm fehlte das Experimentelle, und der wirtschaftliche Zwang, den Markt bedienen zu müssen mit Dingen, die er gar nicht mehr machen wollte, war ihm einfach zuwider. Der radikalen Schritt, zumindest für eine gewisse Zeit die Kunstproduktion vollständig einzustellen, wurde natürlich durch den Wohlstand, den er sich in den Jahren davor erarbeitet hatte, leichter für ihn.

Ich springe jetzt zwischen den Kunstgattungen, aber wenn ich beispielsweise David Bowies Werk betrachte, dann besteht dieses aus regelmäßigen stilistischen Totalbrüchen. Er wäre nicht dieser dauerhaft erfolgreiche Künstler geworden, hätte er sich zeitlebens auf seinen ersten erfolgreichen Stil festgelegt. Ich glaube, dass sich Künstler und eben auch Fotografen, auf ihre innere Stimme verlassen sollten. Wenn sie das Gefühl haben etwas machen zu wollen, das nicht zu ihren bisherigen Werken passt, sollten sie es machen, egal was der Markt dazu sagt. Vielleicht sehe ich das aber auch zu sehr aus der Kunstecke heraus und ignoriere die ökonomische Realität zu stark.

Jetzt aber zu der nächsten Frage. In welche Richtung möchtest du die Spezialisierung deiner Arbeit vorantreiben?

Janine Graubaum: Deine Gedanken finde ich sehr spannend und teile deine Meinung, dass der immer gleiche Stil langweilig werden kann. Ich gehe jetzt gleich zur Beantwortung der Frage über. Ähnlich geht es mir nämlich beim Thema „Spezialisierung in eine Richtung“. Wir sollen als Mensch immer besonders vielseitig sein, als Arbeitnehmer flexibel und möglichst viele Talente mitbringen, viele unterschiedliche Spagate machen können im Leben. Ich finde das für mich als Person schon lange toll. Ich bin sehr spontan und probiere sehr gern neue Dinge aus, und möchte mich eigentlich nicht festlegen lassen. Leider ist es in der kommerziellen Fotografie genau anders rum. Die Kunden und Agenturen verstehen nicht, dass ein Fotograf nicht nur Portrait kann oder Landschaft oder Transportation. Ich stelle immer wieder fest, dass mich Leute eingrenzen wollen, oder mir empfehlen, mich mehr zu spezialisieren. Ich finde das manchmal schwierig, weil ich das, was ich mache in den unterschiedlichen Bereichen, liebe. Aber je mehr es darum geht, mit meiner Fotografie wirklich Geld zu verdienen, desto mehr merke ich, dass man möchte, dass ich mich auf eine Sache konzentriere. Viele wollen es nicht akzeptieren, dass ich dokumentarisch und kommerziell, also in der Werbung arbeite. Und schließen das eine für das andere aus. Ich liebe es aber, einerseits Momente einzufangen und dabei möglichst unsichtbar zu sein, die Situation mit meiner Anwesenheit nicht zu zerstören, zu beobachten, und die Bilder zu finden, und dafür ganz viel Zeit zu haben. Und andererseits habe ich große Freude daran, mir Bilder im Vorhinein zu überlegen und zu inszenieren, ein Set aufzubauen und die Personen darin agieren zu lassen, und sie anzuweisen. Im Team zu arbeiten und gemeinsam zu einem tollen Ergebniss zu kommen. Dies sind zwei ganz unterschiedliche Aspekte der Fotografie. Dennoch möchte ich mich nicht davon abbringen lassen, beides weiterhin zu tun. Ich möchte es aber vorerst insoweit eingrenzen, als das meine Themen eher Menschbezogen sind. Zum einen People- und Lifestylefotografie im kommerziellen Bereich, und dann dokumentarische Geschichten von Menschen.

Weiterhin möchte ich mehr im Bewegtbildbereich als Regisseurin und Kamerafrau machen. Hier stelle ich mir vor, meine Erfahrungen aus beiden Aspekten der Fotografie in kurzen Geschichten zu vereinen. Meine Eindrücke und Begegnungen, die ich auf meinen Reisen für die dokumentarische Fotografie mache, als Inszenierung im Bewegtbild aufzugreifen.

Jens Pepper: Ich möchte jetzt wieder auf dein Buch zurückkommen. Wie ist Hannes Wanderer von peperoni books auf dich bzw. die Fotos aus kosmos-train aufmerksam geworden?

Janine Graubaum: Hannes Wanderer von Peperoni Books habe ich 2015 auf dem Kasseler Fotobook Festival kennengelernt. Ich hatte mit ihm eine Portfoliobesprechung und habe ihm mein Projekt gezeigt. Er war sofort begeistert, da auch er früher viel im Schlafwagen nach Russland gereist ist. Noch in unserem Portfoliogespräch habe ich ihn ganz direkt gefragt, ob er sich vorstellen könne, das Buch zu verlegen. Er wollte sich natürlich nicht festlegen lassen und hat mir vorgeschlagen, mal in Berlin in seinem Fotobuchladen 25books vorbei zu kommen, was ich dann gleich in der Woche darauf getan habe. Einige Gespräche später stand fest, dass wir das Buch gemeinsam publizieren wollen.

Jens Pepper: Hattest du eine Vorstellung davon, wie das Buch aussehen sollte und welche Fotos mit aufgenommen werden sollten, und ist das dann so umgesetzt worden? Oder habt ihr die Fotografien gemeinsam ausgewählt und die Gestalt des Buches zusammen entwickelt?

Janine Graubaum: Es gab ein paar Eckpunkte die für mich von Vornherein klar waren. Ich wollte z.B. ein Buch im Hochformat haben, trotz der Tatsache, dass fast alle meine Bilder im Querformat fotografiert wurden, und ich wusste, dass ich damit den Pfalz in der Mitte eines jeden Bildes würde in Kauf nehmen müssen. Das Leinencover war auch ein Wunsch von mir, den wir dann zum Glück am Ende auch verwirklichen konnten, da es finanziell noch gepasst hat. Beim Edit habe ich Hannes zunächst freie Bahn gelassen. Er hat die Reihenfolge so aufgebaut, dass der Betrachter wie auf einer Zugfahrt im Nachtzug mitgenommen wird. Man steigt Abends in den Zug ein, fährt über den nachsten Tag und kommt am Abend oder den darauf folgenden Morgen wieder im Dunkeln am Ziel an. Hannes hat auch einige Bilder ausgewählt, die ich nicht unbedingt mit rein genommen hätte, die für mich im Nachhinein aber das Gefühl, auf dieser Reise dabei zu sein, noch verstärken, da sie Übergänge schaffen oder das Gefühl der langen Reisezeit verstärken. Einige wenige Bilder habe ich aber auch wieder rausgenommen. Wir haben das Buch gemeinsam gemacht und so lange abgewogen bis es am Ende perfekt war. Hannes Erfahrung und sein Gespür für jedes Thema die passende Fotobuchgestaltung zu finden hat mich sehr fasziniert.

Jens Pepper: Mit welcher Auflage ist Kosmos-Train in den Handel gekommen?

Janine Graubaum: Es hat eine 600er Auflage.

Janine Graubaum

Das Gespräch wurde im August 2016 geführt.

Die Fotografin Janine Graubaum lebt in Berlin.

www.kosmos-train.de
www.janinegraubaum.de

“Wollen wir das Schicksal der Kunst wirklich ein paar rückwärtsgewandten Pseudofrommen überlassen?” – Jens Pepper im Gespräch mit der Fotografin georgia Krawiec

 

Jens Pepper: Du bist im vorvergangenen Jahr von Warschau nach Berlin gezogen und kennst nun die Fotoszenen beider Städte recht gut, die von Warschau vielleicht etwas besser, weil du dort länger gelebt hast. Nach deiner bisherigen Erfahrung: Was sind die größten Unterschiede, die dir im Vergleich beider Szenen auffallen?

georgia Krawiec: Für die Beantwortung dieser Frage müsste ich eigentlich sehr weit ausholen, aber ich versuch´s mal in wenigen Sätzen:

Ein großer Unterschied zwischen beiden Städten ist aus fotografischer, wie aus allgemein künstlerischer Sicht, die Stellung Warschaus als Nukleus des gesamten Landes. Ähnlich wie in Frankreich, wo bekanntlich alle Wege nach Paris führen, ist Warschau der zentrale Platz der Fotografie. Jetzt könnten beispielsweise die Posener Fotokünstler sich ein wenig vernachlässigt fühlen, da es ja dort wirklich gute Fotografie gibt, doch in Warschau dreht sich vieles um die Warschauer, man sollte daher vor Ort sein, um zu wirken. Und Du bist ja DA! Also einen großen Vorteil hast Du schon.

Berlin dagegen hat sich erst in den letzten Jahren neben Hamburg und Köln als wichtigstes Zentrum für Fotografie etablieren können und ich habe den Eindruck, dass hier der Wohnort- oder Herkunftsaspekt keine so überragende Rolle für die Wahrnehmung in der Szene spielt.

Ein weiterer Unterschied ist die starke Ausdifferenziertheit der fotografischen Szene: In Warschau unterscheidet man zwischen Künstlern, die sich als Medium der Fotografie bedienen und Fotografen, die Fotokunst betreiben. Hier dagegen ist diese klare Trennung für mich so nicht erkennbar. Es gibt offensichtlich unendlich viele Nuancen, Schattierungen und Möglichkeiten zwischen den unterschiedlichsten Genres, die völlig neue Symbiosen mit der Kunst eingehen können. Naturwissenschaftler, die über Fotografie mit Malern Projekte machen, Musiker, die zur Fotografie komponieren und Soziologen, die sich auf eine Fotoreise machen, um dem Flüchtlingsdrama zwischen der EU und Afrika am Zaun in Melilla auf die Spur zu kommen. Alles ist möglich und, so habe ich es bisher gesehen, wird auch wirklich ernst genommen.

Gerade die Flüchtlingskrise und die mit ihr verbundene Migration ist für Künstler in Berlin eine permanente Auseinandersetzung, von der man in Warschau aus bekannten Gründen noch sehr weit entfernt ist.

Einhergehend damit ist die Internationalität der Fotoszene in Berlin zu nennen, die zwar auch in Warschau ein wenig Einzug hält, aber lange nicht mit derselben Intensität. Persönlich kann ich sagen, dass es aufgrund der Offenheit der Szene und der Gesellschaft hier leichter zu sein scheint, künstlerisch wahrgenommen zu werden, Kontakte zu knüpfen. Die meisten Fotokünstler, die ich in meinen zwei Jahren kennen lernte, denken in Netzwerken und vielleicht ist dies eine der Erklärungen für das Willkommensein. Umgekehrt haben gerade Polen hier offenbar einen guten Stand, was sich daran zeigt, dass Artur Żmijewski die 7. Berlin Biennale kuratierte oder Adam Szymczyk, der künstlerischer Leiter der Dokumenta XIV. im nächsten Jahr ist… Das sind doch Zeichen!

Jens Pepper: Jetzt, wo du in ein anderes Land gezogen bist, fällt es dir leicht, die alten Kontakte in Warschau zu halten? Gilt jemand, der aus der Fotoszene weg- und woanders hingeht, als Botschafter der heimischen Szene oder eher als Fahnenflüchtiger?

georgia Krawiec: Den Begriff Fahnenflucht finde ich grotesk und da das Fahnentragen bei mir unschöne Erinnerungen weckt, waren es eher die Fahnen, die vor mir geflohen sind. Und zwar sowohl die weiß-rote als auch die schwarz-rot-goldene [lacht].

Aber zu Deiner Frage: Manche meiner Fotokollegen und -freunde waren entsetzt und traurig, dass ich meinen Wirkungsschwerpunkt verlegt habe. „Hast du dir das wirklich gut überlegt?“ – hat eine Kuratorin gefragt. Die meisten dagegen freuten sich mit mir über diesen Schritt, verabredeten sich schon im Voraus zum Monat der Fotografie, Berlin-Biennale oder Gallery Weekend. Berlin ist „za miedzą”, also hauchnah, seine Bedeutung für die polnische Kunst- und Fotoszene ist nicht zu unterschätzen und in Berlin sichtbar: polnische Galerien wie UP-Gallery, Żak-Branicka, polnische Künstler wie Marek Poźniak, Joanna Rajkowska oder Pola Dwurnik, und – natürlich auf den Straßen – diverse polnische Themen.

Polen sind unglaublich flexibel, mobil und spontan – dies hast Du bestimmt schon in Warschau selbst erfahren? – und sie kleben keinesfalls so sehr an ihrer Scholle, wie manch satter Westeuropäer. Wenn es mir gelingt, als Botschafterin, wie Du es ausdrückst, zwischen den beiden Kulturen zu wirken, würde ich mich freuen. Projekte wie SilesiaTopia, Nowa Ameryka oder The Promised City sind Beispiele von solchen funktionierenden Brücken, die auch Früchte tragen und außerhalb des Insititutionalisierten weiter wirken. Die meisten Brücken aber entwickeln sich doch einfach beim Teetrinken. Und dies ist das Wunderbare!

Jens Pepper: Die Warschauer Galerieszene ist recht überschaubar. Wie zeitgenössische Kunst und Fotografie von der heimischen Bevölkerung aufgenommen werden, kann ich allerdings noch nicht beurteilen, da ich noch zu neu in der Stadt bin. Auch scheint mir der Kunst- und Fotomarkt noch nicht sehr stark ausgeprägt zu sein. Wie siehst du denn die Galerienszene in Warschau, und welchen Stellenwert hat die Fotografie in ihr?

georgia Krawiec: Durch die Berliner rosa Fotobrille gesehen, wirken ja viele Städte oder gar Hauptstädte eher blass. Man sollte diese Brille abnehmen und sich vergegenwärtigen, dass die polnische Gesellschaft eine Transformationsgesellschaft ist und der Umbruch immer noch andauert. Deshalb gibt es auch in der Fotogalerieszene eine große Fluktuation: professionelle Galerien wie die YOURS Gallery, die Luksfera, Refleksy machten während meiner Kadenz zu, auch die Mała Galeria ZPAF-CSW, die fast 30 Jahre lang die Entwicklung in der Fotografie prägte. Andere Galerien wiederum wurden neu eröffnet oder zogen immer wieder um. Die Aktivisten der Galeria Czułość wollten nicht aufgeben, wurden gezwungen vier Mal umzuziehen, haben aber durchgehalten. Es gibt auch Beispiele von privaten Galerien, die sich dennoch über Jahrzehnte mit anspruchsvollem Programm halten, wie etwa die Galeria Asymetria.

Es existiert zwar ein Fotomarkt (wie das Auktionshaus Fotografia Kolekcjonerska) und einige wenige ernstzunehmende Fotosammler, wie Cezary Pieczyński oder Joanna i Krzysztof Madelski, die Du bestimmt schon kennst [lacht], jedoch reichen die bei ihnen erzielten Umsätze kaum für ein so teures Pflaster, wie es Warschau ist. Die Stadt gibt einen sehr geringen Anteil der Gelder für Kultur aus. Es gibt beispielsweise keine Unterstützung für Projekträume. Mein Eindruck ist, dass die dennoch vorhandene turbulente Entwicklung dadurch begünstigt wird, dass die Menschen oftmals alles auf eine Karte setzen und sehr viel mehr wagen als im Westen. Es machen Institutionen auf, die ein Wagnis sind, an gewagten Orten, so dass man mit Idealismus ins kalte Wasser springt. Wenn es mit der Fotografie in einer realen Galerie nicht funktioniert, dann verwandelt man sie in eine virtuelle oder in einen Fotografiebuchverlag.

Du fragst, nach dem Stellenwert der Fotografie in Warschau. Meiner Ansicht nach hat sie innerhalb der Kunst im Allgemeinen keinen geringeren Stellenwert als in Berlin. Nur die Maßstäbe sind hier anders. Ich meine hier wieder die rosa Brille. Und zwar die quantitativen und preislichen Maßstäbe. Bei dem kunstinteressierten Publikum aber, denke ich, ist die Fotografie als Kunst auf jeden Fall angekommen.

Und Du hast Recht, die Fotoszene ist überschaubar, man kennt sich, die Wege sind kurz und die Vernissagen voll, auch gut für Dich… Also konkreter gesagt: Sei gnädig mit deiner neuen Wahlheimat, denn die Fotografie in Warschau kommt langsam, aber sie kommt!

Jens Pepper: In dem Warschauer Mode- und Zeitgeistmagazin KMag habe ich heute ein Interview mit Aneta Grzeszykowska gelesen, deren Fotos mir bereits im vergangenen Jahr in der Raster Galerie aufgefallen waren. Sie hat auch an einer der letzten Berlin Biennalen teilgenommen. Kennst du ihre Werke?

georgia Krawiec: Es gibt, denke ich, keine wirklich Kunstinteressierten in Polen, die Aneta Grzeszykowska nicht kennen würden. Sie gehört zusammen mit beispielsweise Wilhelm Sasnal oder Zbigniew Libera zu den wichtigsten Künstlern Polens. Seit ca. 2007, seit dem sie die schwarzen Videofilme gedreht hat, ist sie in der Kunstszene unübersehbar und auch unglaublich produktiv. Die Videos sind betörend, hineinziehend, sie sind magisch! Wenn ich sie sehe, kann ich nicht aufhören. Ich schaue sie mehrfach an. Solltest Du sie noch nicht gesehen haben, dann unbedingt nachholen! Denn das, was sie aus ihrem Körper herausholt ist nicht nur minutiöse Präzisionsarbeit, sondern auch schönste Choreographie. Schaue Dir bitte mal die Interpretation einer Uhr an, in der sie auch mit der Multiplikation des eigenen Körpers spielt. Es ist wirklich genial, die Uhr funktioniert wirklich! In der Ausstellung bei Raster, die Du wahrscheinlich gesehen hast, macht sie neuerdings etwas mit ihrem Körper, das den Schönheitsbegriff aus den schwarzen Videos ins Bestialische überführt. Die Körperteile sind hervorragend erstellt und inszeniert, möglicherweise ist jedoch für sensible Betrachter so viel Schweinehaut in Nahaufnahme mit menschlichen Zügen etwas gewöhnungsbedürftig.

Ich mag ihre Arbeiten sehr, ich mag das Düstere, Morbide und gleichzeitig Schöne an ihnen. Egal, ob man die graphischen Videoarbeiten wie Kopfschmerz oder die Uhr nimmt, die gefaketen Portraits im Stil Thomas Ruffs oder die absurden, unlogischen, Positiv-Negativ-Selbstportraits aus dem Negative Book, sie sind alle zu Ende gedacht. Das ist hohe Kunst. Ich schätze außerdem auch an Grzeszykowskas Arbeitsstil, dass sie großen Wert auf die Form legt. Das ist heutzutage nicht selbstverständlich.

So macht mir der Kunstkonsum wirklich Freude. Wie fandst Du die Körperexponate in der Galeria Raster?

Jens Pepper: Absolut großartig. Ich bin rein in die Galerie und war begeistert. Das ist für mich wirklich spannende Fotografie. Diese Serie ist in gewisser Weise auch surreal; da steckte so ein Bellmerscher Impuls drin. Ich habe mir auch gleich das von Raster publizierte „Love Book“ von Grzeszykowska gekauft, in dem ja all die Arbeiten, die du gerade so schön beschrieben hast, enthalten sind.

Welche Fotografinnen und Fotografen aus Warschau empfiehlst du noch?

georgia Krawiec: Vor allem bei Grzyszykowska würde ich doch lieber von einer Fotokünstlerin reden, da sie sich doch von der reinen Abbildung entfernt und selbst stark eingreift, auch mit Objekten arbeitet, die keinen Bezug zu Fotografie haben. Aber um auf Deine Frage zurückzukommen, ein Großer seiner Zunft, dessen Arbeit ich sehr schätze, ist Wojciech Prażmowski, der dokumentarfotografisch arbeitet, jedoch auch künstlerische Ansätze verfolgt, bis hin zu Fotoobjekten. Er verwendet auch fremde Fotografien, meistens mit stark historischen Bezügen und bildet aus ihnen, man könnte fast schon sagen, Fotoskulpturen.

Eine jüngere Vertreterin der Warschauer Fotoszene ist Magda Hueckel, eine aus Gdansk stammende Fotografin, die letztens ein unglaublich opulentes Album der Theaterfotografie herausgab, ein Novum auf der polnischen Fotografiebühne. Sie ist mir ganz nah, wir haben, glaube ich (sie hoffentlich auch [lacht]), eine Seelenverwandtschaft. Ohne es von einander gewusst zu haben, arbeiteten wir gleichzeitig an zwei Selbstportraitzyklen über den psychischen und physischen Vergang. Genau dort wo mein Zyklus endet, fängt ihrer an. Ich empfehle Dir beispielsweise ihr Projekt Anima, das mit dem Unterbewussten und Unerklärlichen spielt. Die Fotografien sind unheimlich aber gleichzeitig wunderschön.

Eine echte Fotografiepäpstin ist auf jeden Fall Zofia Kulik. Bemerkenswert ist hier zu erwähnen, vielleicht kein Zufall, dass es formale Überschneidungen mit den Videos von Grzeszykowska gibt, was aber beiden keinen Abbruch tut. Kulik spielt z.B. mit dem Körper des Partners Kwiek und entwirft monumentale, penibel inszenierte Fotocollagen. Auch mit politischen Andeutungen.

Ich schätze auch die Fotografien von Adam Pańczuk, Jacek Poremba und Paweł Żak. Ich kann sie leider hier nicht alle aufzählen, aber vielleicht noch ein paar Namen aus der klassischen Dokumentarfotografie: die Fotografen Przemysław Pokrycki, Zorka Projekt (zwei Fotografinnen die beide Monika heißen) oder der ganz klassische Reportagefotograf Chris Niedenthal sind Warschauer, die sich nachhaltig mit sozialen Themen befassen. Empfehlen kann ich Dir auch noch unbedingt Maciej Pisuk und dessen eindringliche Sozialreportage einer in Warschau-Praga lebenden Familie, die wirklich unter die Haut geht.

Ich habe natürlich ein Tausend und noch einen wichtigen und unübersehbaren Fotografen nicht erwähnt. Ojejku! Hoffentlich liest er oder sie dieses jetzt nicht! Den oder die besprechen wir ein anderes Mal, ok?

Jens Pepper: Die meisten Protagonisten polnischer Fotografie kennt man in Deutschland nicht oder nur in sehr spezialisierten Kunstkreisen. Zofia Kulik z. B. ist einigen sicherlich ein Begriff. Natalia LL vielleicht auch. Die meisten Fotografennamen tauchen allerdings nur selten auf. Auch in Ausstellungen und Publikationen. Das mag sich in den vergangenen Jahren ein wenig geändert haben, in Berlin kann man das beobachten, beispielsweise durch die Aktivitäten und Messebeteiligungen der von dir schon erwähnten Galerie Żak Branicka. Und durch die Markt- und Ausstellungspräsenz einiger weniger Kunststars, die aber eher aus den Bereichen Malerei, Installation, Objekt und Performance kommen, ist der eine oder andere Deutsche vielleicht neugierig geworden auf das, was im Nachbarland ganz generell in den Künsten geschieht und historisch geschah. Doch so richtig umfassend ist das Wissen über Polens Foto- und Kunstszene nach wie vor nicht. Dabei gibt es so viel zu entdecken. Woran liegt das? Sind die Deutschen da schwerfällig?

Vor 15 Jahren hätte ich argumentiert, dass der Durchschnittsdeutsche, besser Durchschnittswestdeutsche – denn für die ehem. DDR-Bürger kann ich nicht sprechen – mit einer ausgeprägten Westorientierung aufgewachsen ist und den Osten so gar nicht auf dem Bildschirm hatte. Ich nehme mich da persönlich nicht von aus. Aber jetzt ist eine ganze Nachwendegeneration herangewachsen, und das deutsche Interesse an Polen und an dem, was dort passiert und entsteht, ist immer noch gering. Man sollte glauben, dass die jungen Menschen gerne mal schauen wollen, was im Nachbarland geschieht. Woran liegt das? Liegt es an der schwierigen polnischen Sprache? Liegt es daran, dass sich auch polnische Künstler – jetzt spreche ich wieder ausschließlich von bildenden Künstlern und Fotografen – lieber in Richtung Westen orientieren, da nur dort wirklich Geld verdient werden kann? Und dass durch diese Westfixierung der Deutsche und Westeuropäer gar kein Interesse an Polen entwickeln braucht, weil die Polen sowieso zu ihnen hinstreben? Das war jetzt eine Menge, was ich da angerissen habe, wirkt vielleicht auch ein wenig konfus, aber ich hoffe, du erkennt den Kern dessen, was ich sagen und worauf ich hinaus will.

georgia Krawiec: Die Frage und sogar die Antwort ist richtig [lacht].

Aber jetzt ernsthaft: ich denke, dass ich für diesen Diskurs die falsche Ansprechpartnerin bin. Es wäre unglaubwürdig meinerseits eine Diagnose zu stellen, deswegen ist es gut, dass Du von den zehn Fragen mindestens acht bereits selbst beantwortet hast. Ich habe zwar Eindrücke aber die sind vielleicht doch durch die zeitlich begrenzte Erfahrung zu oberflächlich.

Jens Pepper: Dann wenigstens Deinen Eindruck.

georgia Krawiec: Bei meinem Eindruck würde ich jedoch die Briten, die Franzosen und die Italiener aus diesem Kunst- und Marktspiel ausschließen. So stehen die Polen gar nicht so schlecht da. Die Präsenz holländischer oder portugiesischer Künstler scheint mir hier nicht überragend zu sein. Gleichwohl können die Kunst- und Fotoszene Belgiens oder der Schweiz der Tschechischen die Stirn bieten, aber da steht, hoffe ich, die polnische Fotoszene resolut und selbstbewusst mit einigen Vertretern, Veranstaltern und Events da.

Doch ich glaube, diesen Eindruck nehme ich sofort wieder zurück! Das gegenseitige Aufwiegen der einzelnen Nationen und deren Künstler bringt wahrlich keinen Mehrwert. Dies ist der falsche Weg. Gerade hier in Berlin herrscht eine solche Kunst-Willkommens-Kultur, dass ich bei diesem nationalen Abgleich ungern richten würde.

Man sollte als Mediator, Kunst- und/oder Kulturschaffender einen vorwärts gerichteten Weg gehen, immer das Licht am Ende des Tunnels sehen und nicht den Tunnel selbst. Du machst es doch schon, Du bist der Beweis, dass ein Durchschnittsdeutscher (entschuldige!) auch hier Aufklärung sucht. Wird ihm diese nicht zuteil, so macht er sich selbst auf den Weg.

Ich missbillige in keinster Weise „verordnete” Veranstaltungen. „Seitenwechsel“, der zur 25-jährigen Städtepartnerschaft Berlin-Warschau realisiert wurde, oder „Luneta“, das Breslau-Berlin-Projekt zur Kulturhauptstadt Europas 2016, bringen die Menschen zusammen, manchmal auch in Kontakt. Sie sind zwar zu allererst konsumorientiert, machen aber auch neugierig, öffnen Horizonte. Dies tun auch kleinere Initiativen wie der „Buchbund“ oder dein Blog.

Jens Pepper: Gibt es in Warschau einen Markt für Fotografie? Kannst du einschätzen, wie Galerien oder auch Fotografen aus ihren Studios heraus verkaufen?

georgia Krawiec: Natürlich gibt es einen Markt für Fotografie in Polen. Allerdings ist die Analyse davon mehr als heikel! In Polen gibt es vieles, das in den Bereich der Intimsphäre gehört, worüber man jedoch in Deutschland schon beim ersten Kennenlernen plaudern kann: mein Haus, meine Oldtimersammlung, mein Arbeitslosengeld, mein Urologe und so etwas. Polnische Ohren sind da empfindlich und die Künstler selbst noch einen Tick empfindsamer. Meiner Ansicht nach wird Erfolg oder Scheitern zwar prinzipiell nicht so sehr am Finanziellen fest gemacht, da aber Warschau nun mal ein echt teures Pflaster ist, kommt dem Verkauf ein existenzieller Wert zu. Über diesen spricht man dann aber nicht! Nicht mal nach zehn Jahren Bekanntschaft.

Bei Galerien kann ich es nicht beurteilen, jedoch habe ich in Warschau nie ein Galeristengespräch geführt, in dem man mir freimütig Zahlen preisgab. Dies war und ist wohl eher ein Betriebsgeheimnis, wenigstens den Künstlern gegenüber. Hier dagegen scheint man mit der Transparenz in Sachen Verkauf weniger Probleme zu haben – ein echter, kultureller Unterschied. Interessant wäre die Frage, wie sich solche Differenzen in der freien Wirtschaft ausgestalten, im Bereich der Kunst zumindest ist diese Offenheit eher befremdlich.

Vielleicht kann Dir hier Katarzyna Sagatowska, die seit etlichen Jahren erfolgreich das Auktionshaus Fotografia Kolekcjonerska leitet, Auskunft geben? Aber ich bitte Dich, falle als typischer Deutscher nicht gleich mit der Tür ins Auktionshaus! [lacht]

Jens Pepper: Hast du denn polnische Käufer oder gar Sammler für deine eigenen Arbeiten? Ich weiß, das ist jetzt genau die Frage, die du gerade als typisch deutsch beschrieben hast, aber ich bin eben schrecklich neugierig.

georgia Krawiec: Also ehrlich gesagt, auch wenn ich es lange hin und her rechne, und Buchhaltung ist leider nicht meine Stärke, komme ich nicht darauf, welcher Teil in mir überwiegt: Inwiefern bin ich eine germanisierte Polin, eine polnische Deutsche oder der fünften Kolonne beider Fraktionen entlaufen? Und auch, wenn ich es den Osten rauf und den Westen runter rechne, die Rechnung geht einfach nicht auf. So oder so: Die Antwort auf deine Frage lautet: Siehe vorherige Antwort.

Jens Pepper: Aber es gibt Leute, die deine Kunst kaufen?

georgia Krawiec: Du bist aber wirklich sehr hartnäckig deutsch! Natürlich gibt es solche Leute oder auch Institutionen. Nur ganz, ganz zu Anfang, Anfang der 90er Jahre, war ich so idealistisch und dachte, ich muss die Kunst niemanden zeigen, sie soll für sich existieren und aus sich selbst heraus Kunst sein. Und Verkaufen wäre damals undenkbar gewesen, ein Verrat an der Kunst. Inzwischen hat sich die Realität in mein Kunstverständnis eingeschlichen und ich fände es schlimm, nur für die Schublade zu werkeln… Ich kann nicht sagen, ich könnte von den Verkäufen leben, dafür betreibe ich wahrscheinlich zu wenig Akquise, mache zu kleine Auflagen oder nur Unikate und habe bisher auch keinen Agenten. In Deutschland bin ich noch zu neu, aber hier – so hoffe ich! – gibt es andere Möglichkeiten, da die Gesellschaft keinen Nachholbedarf an Konsumgütern zu haben scheint und sich für Anderweitiges interessiert, sich engagiert und auch in Kunst zu investieren scheint. Ich will Dir jetzt keine Aufzählung der Gönner präsentieren, aber auf der Homepage der Galerie ep-contemporary findest Du ein Paar Namen. Zufrieden?

Jens Pepper: In Warschau hat man relativ schnell einen Überblick über die Fotografieszene, einfach deshalb, weil sie im Vergleich zu Berlin sehr viel überschaubarer ist. Gibt es deiner Erfahrung nach einen Zusammenhalt zwischen den einzelnen Gruppierungen? Also ich meine, zieht man an einem Strang, um den Fotostandort Warschau nach vorne zu bringen, bekannter zu machen? Oder leben die verschiedenen Szenen nebeneinander her und wollen miteinander nichts zu tun haben?

georgia Krawiec: Blau: jak jest? mocno? cianko? brzydko? ciasno?

Schwarz: Tja, dies ist eine Frage, die nicht nur die Warschauer Fotogemeinde oder -gemeinden betrifft, sondern eine ganz allgemein gültige. Ich bin mir da nicht sicher, ob dies eine Warschauer oder polnische Spezialität ist oder ein Phänomen der Zeit, das eines unaufgearbeiteten Ostblockkomplexes.

Es ist etwas Antikollektivistisches und gleichzeitig Egozentrisches, und das verursacht, dass ein polnischer Fotostrick eher in einzelne Fäden gespalten wird, an denen die Beteiligten dann versuchen das Glück auf ihre Seite zu ziehen. Aber dies bessert sich auch. Beispielsweise wurden über ein paar Jahre hinweg zwei konkurrierende Fotofestivals in Warschau veranstaltet. Heute sind es immer noch zwei, aber sie konkurrieren nicht mehr miteinander. Warschau ist ständig im Umbruch, die Leute sind jung, die Fotoszenen umso mehr, es passiert viel und die Richtung ist nicht vorhersehbar. Wie gerade in der Politik. Darum kann man auch nicht prophezeien, ob und wie und wann und welche Szenen miteinander fusionieren werden. Man muss mit uns Geduld haben.

Ich bin wirklich beeindruckt gewesen, als ich in Boston auf einem Art Walk Tag gewesen war, an dem 200 Galerien gleichzeitig Eröffnungen feierten. Ein wirklich starkes Event. Als ich nach Warschau zurückkam, habe ich mit mehreren Galeristen gesprochen, ob man etwa einmal im Jahr einen solchen Tag einrichten könnte. Es war das Jahr 2007 und die Zeit war noch nicht reif. Mittlerweile gibt es beispielsweise das Warsaw Gallery Weekend, an dem die meisten Galerien teilnehmen und zu dem Kunstgäste aus ganz Europa kommen, auch aus Berlin! Natürlich ist es nicht ein reines Fotofest, verständlicherweise, da, wie Du es auch angemerkt hast, die Anzahl reiner Fotogalerien überschaubar ist. Aber ich bin da ganz hoffnungsvoll, der Strang wird immer dichter, immer enger [lacht].

Jens Pepper: Gibt es Unterschiede in der Rezeption Deiner eigenen Fotokunst zwischen Warschau und Berlin?

georgia Krawiec: Ja, der erste Unterschied bist Du selbst. Bisher habe ich mich nämlich mit keinem Journalisten, Kunstkritiker oder Fototheoretiker öffentlich über die marktwirtschaftliche Seite meiner Arbeit unterhalten. Zur Berliner Rezeption kann ich noch nicht so viel sagen, jedenfalls besteht der zweite Unterschied in der Verankerung meiner Fotokunst in Berlin und in Warschau. In Warschau nimmt man es als FOTOkunst wahr, in Berlin eher als fotoKUNST. Ich würde es jedoch nicht bewerten, beide Rezeptionswege haben ihre Vor- und Nachteile. Momentan aber, in der Berliner Luft, schwimme ich gerne (oder fliege ich!) in der Freiheit des Begriffes Kunst und fühle mich wirklich wohl dabei. Meine Kunstsynapsen sind los!

Jens Pepper: Du hattest eingangs gesagt, dass Warschau als Standort für Kreativität, Ausstellung und Vertrieb die Nummer Eins in der polnischen Fotografie sei. Aber die Szene ist doch recht übersichtlich, das kann ich auch als Neuling in der Stadt feststellen, und du hast es ja auch schon bestätigt. Sind Städte wie Krakau und Łódź, die eigene Fotofestivals haben, Lodz darüber hinaus auch eine berühmte Filmhochschule, wirklich nur zweite Garde im Land? So zentralistisch kommt mir die Fotoszene in Polen ehrlich gesagt gar nicht vor. Da die Szene in Warschau so klein ist, fände ich einen Blick von oben herab auf die Szenen in Krakau, Danzig, Posen, Łódź etc. auch etwas fehl am Platz.

georgia Krawiec: Na ja, vielleicht habe ich in meinen Warschauer Jahren doch den Bazillus egozentricus geschluckt und sehe alles auch aus der Warschauer Sicht… Aber zur meiner Verteidigung muss ich sagen, dass zwar die Festivals einen Einfluss auf die Bedeutung des Standortes haben, zugleich aber nicht unbedingt die Visitenkarte der örtlichen Fotoszene darstellen. Beispielsweise waren auf dem diesjährigem Fotofestival in Łódź die besten Ausstellungen international besetzt oder zumindest von Fotokünstlern, die nicht aus Łódź kamen, vielleicht abgesehen von einer kleinen aber hervorragenden Ausstellung des Filmhochschulprofessors Grzegorz Przyborek. Bezeichnend ist auch, dass in einer eindrucksvoll abgedunkelten, kuratierten Ausstellung in der Galeria Imaginarium fotografische Positionen zweier Fotografiestädte, Łódź und Posen, miteinander konfrontiert wurden.

Ich bin auch vom hohen Niveau der Fotografielehre an der Universität der Künste in Posen überzeugt. Die dortigen Professoren Florkowski, Wołyński oder Baranowski können sich mit heute angesehenen Absolventen schmücken, wie z.B. Paweł Bownik, Tomasz Dobiszewski oder die Kuratorin und Publizistin Marianna Michałowska. Allerdings würde ich den Standort Posen nicht in Konkurrenz mit dem Warschaus sehen, hingegen die Fotografie an der Posener Kunstakademie mit der Fotografie an der Warschauer Kunstakademie auf jeden Fall.

Und Du zweifelst zurecht über die zweite Garde. Das Selbstbewusstsein der einzelnen Fotografiestandorte entfaltet sich mit hohem Potenzial, vielleicht ist auch die europäische Politik unter dem Begriff Europa der Regionen an dieser Entwicklung mit beteiligt (DANKE! Europa!), indem dezentrale Projekte besonders gefördert werden. Meine Hoffnung ist, dass sich dies trotz der gegenwärtigen politischen Entwicklung fortsetzt, damit ein Pluralismus in der Kunst mit verschiedenen Sehschulen und künstlerischen Ansätzen in der Fotografie die polnische Fotografie insgesamt stärkt. Ich hoffe, wir sind auf einem guten Weg, irgendwann mal auch eine Becher- oder eine HGB-Schule vorzeigen zu können. Hier bin ich ein polnischer, unverbesserlicher Optimist.

Jens Pepper: Im gegenwärtigen politischen Klima Polens ist die staatliche Sicht auf Kunst und Kultur extrem rückwärtsgewandt. Ich habe mit Galeristen und Museumsmitarbeitern gesprochen, die davon berichten, dass staatliche Institutionen seit ein paar Monaten die Förderung zeitgenössischer Kunst, und damit auch Fotografie, stark zurückschrauben, ja teilweise sogar vollkommen aufgeben. Museen in Warschau und Posen beispielsweise sind Ankäufsetats, die sowieso schon spärlich waren, gestrichen worden. Zeitgleich wird die Heldenverehrung – Stichworte Katyń, Warschauer Aufstand, Smoleńsk, Papst Johannes Paul II. – von der PiS propagiert. Wer Patriotisches machen will, als Filmemacher, als Bildhauer, als Schriftsteller, dem stehen jetzt offenbar die Türen staatlicher Institutionen offen. Was wird das deiner Meinung nach für Auswirkungen auf die polnische Kunst- und Fotoszene haben?

georgia Krawiec: Dies scheint einem Erdogan-Szenario nahezukommen, und hoffentlich wird Kaczyński und dessen PiS solch radikalen Schritte nicht nacheifern. Glücklicherweise ist Polen EU-Mitglied und aus dieser Mitgliedschaft ergeben sich auch Verbindlichkeiten, von denen eine auf eine vierjährige Kadenz gewählte Regierung nicht einfach zurücktreten kann.

Ich sehe natürlich diese drastischen Auswirkungen der Helden- und Patriotenpolitik in der polnichen Kultur, sowohl auf finanzieller wie auch auf personeller Ebene. So leidet etwa manche Institution darunter, dass der nicht regierungskonforme Leiter oder Kurator in den unbezahlten Urlaub geschickt wird oder keine Chance auf Vertragsverlängerung bekommt, sobald dieser ausläuft. Der Druck ist da und allenthalben spürbar.

Ich wünschte mir daher auch, dass polnische Künstler und Fotografen, die Künstlerinnen und Fotografinnen natürlich mit eingeschlossen, engagierte Kunst machen. Gerade jetzt sollten wir auf die Kunst- und Fotobarrikaden steigen, uns auflehnen und die schweigende Mehrheit wecken. Dem ist noch nicht so (vielleicht außer im Berliner Klub der polnischen Versager [lacht]). Aber ernsthaft: ich glaube nicht einmal, dass dies aufgrund der gegenwärtigen Einschüchterung passiert. Die letzten zwanzig Wohlstandsjahre beruhigten die Gemüter, auch die der Kreativen. Abgesehen von einigen wenigen, wie Łódź Kaliska, Zbigniew Libera oder Artur Żmijewski gehörten engagierte Künstler und Fotografen nicht unbedingt zu den angesagten.

Stattdessen gibt es eine gegensätzliche Entwicklung, nämlich die der antiengagierten Kunst, deren Grundsätze beispielsweise in der 2007 entstandenen Gruppe Penerstwo forciert werden. Auch eine Rezeption von sogenanntem national-patriotischem Realismus, vor allem durch eine Ausstellung im Warschauer Museum der Moderenen Kunst [Muzeum Sztuki Nowoczesnej], ließ sich beobachten. Und dies sogar noch, das muss ich zugeben, ganz ohne politischen Druck, schon 2012, also bevor die konservative PiS das Regierungssteuer übernahm. Ich hatte damals bereits ein wirklich ungutes Gefühl, dass man hier mit rechtsnationalen Symbolen und fundamentalistisch-religiösen Themen dem radikal rechtsnational-patriotischem Spektrum eine neue, und zwar museale Plattform eröffnet und es somit kulturell etabliert. Das war neu.

Jens Pepper: Kannst du noch etwas mehr auf die Auswirkungen auf die Kunst- und Fotoszene eingehen?

georgia Krawiec: Ja, eine Bedrohung, von der ich schon gesprochen habe, ist die ökonomische Zensur. Diese scheint ja so unverdächtig. Die Regierung ist dabei, sich eine Kulturlandschaft nach Maß zu stricken. Traurig aber wahr! Die noch größere Gefahr geht aber meiner Meinung nach von dem eher unterschwelligen Phänomen der Selbstzensur aus. Wenn Galerien und Museen gezwungen werden konform zu arbeiten, wenn Kritiker und Publizisten abhängig sind von staatlichen Mitteln für ihre Veröffentlichungen, dann werden die von ihnen zu berücksichtigten Inhalte von vorne herein auch konform gewählt. Eigentlich möchte ich keinem Kreativen unterstellen, dass er oder sie sich planmäßig politisch prostituiert, um weiterhin in den Genuss einer wie auch immer gearteten Förderung zu gelangen, allerdings wird es – zumindest im Unterbewusstsein des einen oder anderen Fotokünstlers – eine Rolle spielen, sich entsprechend anzubiedern. Leider! Wenn Du erlaubst nenne ich keine aktuellen Beispiele.

Und noch eine Anmerkung zur engagierten Kunst: Es mag sein, dass in funktionierenden Demokratien diese als langweilig empfunden wird, weil sie sich als gesellschaftlicher Konsens kein Gehör verschaffen muss. Es mag sein, dass jungen Polen der Zweite Weltkrieg aktueller ist, als die kommunistischen Jahre danach. Dass ihnen nicht bewusst ist, wie es schmeckt, täglich die gleichgeschaltete Presse, unfreie Justiz und politisch angepasste Kunst konsumieren zu müssen. Und all die anderen? Ich habe damals selbst antikommunistische Karikaturen gezeichnet, die auf Flugblätter kamen und mich und meine Familie in Gefahr brachten. Haben wir etwa dies alles schon vergessen?

Also, wo bleibt heute die Rebellion?! Lasst uns endlich was tun – mit Pinsel oder Silbernitrat und vor allem mit freiem Gedankengut (letzteres ist apropos ein sehr schönes deutsches Wort). Schließlich ist es gerade die Kunst, die die Freiheit am dringendsten nötig hat und diese verteidigen muss. Wollen wir ihr Schicksal wirklich ein paar rückwärtsgewandten Pseudofrommen überlassen, die, genauso wie sie schon mal den Mond gestohlen haben1, es nun auf unsere Freiheit abgesehen haben? Nein! Auf diesen Barrikaden bin ich auf alle Fälle dabei!

1 Anspielung auf einen Film von 1962, in dem die Kaczyńskizwillinge die Hauptrollen spielen.

Georgia Krawiec

Das Interview wurde im Juli/August 2016 via Email geführt.

Georgia Krawiec ist eine polnische Fotografin und Dozentin mit Wohnsitz in Berlin.

www.georgiakrawiec.net

„Wenn ich an einem Projekt arbeite, dann gibt es nur das Projekt und nichts anderes“ – Christian Reister interviewt Klaus Pichler

Foto: Klaus Pichler - aus Golden Days before they end

Christian Reister: Klaus, wir haben uns vor einem Jahr auf dem Vienna Photobook Festival kennengelernt, wo du mir zu später Stunde Bilder deiner Arbeit „Golden Days Before They End“ auf dem iPad gezeigt hast. Fotos aus einfachen Wiener Kneipen, die nach und nach aus der Stadt verschwinden. Vor kurzem ging das diesjährige Vienna Photobook Festival zu Ende und das Buch liegt fertig vor, erschienen in der Edition Patrick Frey. Gratulation! Erzähle doch mal, wie es zu der Arbeit kam, wann die Idee zum Buch entstand und wie es zu der Zusammenarbeit mit dem Verlag kam.

Klaus Pichler: Danke! Ich kann mich noch gut an unser Treffen am beim Festival erinnern und freue mich sehr, dass jetzt, ein Jahr später, das Buch wirklich fertig geworden ist. An dem Projekt haben Clemens Marschall, der für die Texte verantwortlich ist, und ich Anfang 2012 zu arbeiten begonnen. Die ursprüngliche Idee kam von Clemens, weil er seit Jahren in solchen Lokalen unterwegs ist und gemerkt hat, dass immer mehr davon zusperren. Er hat mich irgendwann gefragt, ob ich Interesse hätte, mit ihm gemeinsam was darüber zu machen und nach ein paar ersten Besuchen war ich recht schnell begeistert von der Idee. Zu Beginn habe ich ehrlich gesagt nicht dran geglaubt, dass unser Vorhaben realisierbar ist, weil ich einerseits überhaupt keinen Blick dafür hatte, wie viele derartige Lokale es noch gibt und andererseits auch nicht daran glaubte, dass ich dort fotografieren darf. Das hat sich zum Glück recht schnell als Irrtum herausgestellt und so ist das Projekt mehr und mehr gewachsen.

Anfang 2015 hatten Clemens und ich das Gefühl, dass wir mit dem Projekt langsam auf der Zielgerade ankommen und sind auf die Suche nach einem geeigneten Verlag gegangen. Wir haben rund 15 Verlage, die uns sympathisch waren, mit einem PDF angeschrieben und das Team von Edition Patrick Frey hat sofort geantwortet und uns nach Zürich eingeladen. Beim ersten Termin in Zürich haben wir dann gemerkt, dass die Chemie stimmt und wir ähnliche Vorstellungen haben, was das Buch betrifft, und als Patrick Frey uns dann eine Zusammenarbeit angeboten hat, haben wir nicht lange überlegt und zugesagt.

Christian Reister: Die „Beisln“, in denen du fotografiert hast, würde man in Berlin wahrscheinlich „Eckkneipe“ nennen. Ein trinkfreudiges Stammpublikum aus der Nachbarschaft, ein eher derber Umgang, jeder kennt jeden, vielleicht so was wie eine eingeschworene Familie – hart aber herzlich. Wie wurde dort reagiert, als ihr dort als Außenstehende aufgetaucht seid, um zu fotografieren und Texte zu machen? Musstet ihr erst ein paar Schnäpse mit trinken oder wie muss man sich das vorstellen?

Klaus Pichler: Wir haben uns beim ersten Besuch eines Lokals noch vor dem Bestellen bei der Person vorgestellt, die hinter dem Tresen arbeitete – wir sind also quasi mit dem Herz auf der Zunge reingekommen und haben unser Projekt vorgestellt. Da die Lokale alle sehr klein sind und neue Gesichter eher selten, haben alle Gäste genau mitgehört, was wir gesagt haben und oft waren wir nach den ersten paar Sätzen schon akzeptiert und unser Vorhaben wurde unterstützt. Das ging manchmal so schnell, dass ich die Kamera noch gar nicht ausgepackt hatte, als die ersten Gäste schon in Fotolaune waren. Ich kann mich erinnern, dass ich einmal nach 5 Minuten in einen Ehestreit hineingezogen wurde, weil beide mir hintereinander ihr Problem mit dem jeweils anderen vorgebracht haben und ich dann vermittelnd eingreifen sollte. Es hat dann fast zwei Stunden gedauert, bis das Problem ausdiskutiert war. Solche Momente empfand ich als großen Vertrauensbeweis und ich habe mich deshalb immer bemüht, diesem Vertrauen gerecht zu werden – oft auch, indem ich die Kamera den ganzen Abend in der Tasche gelassen und einfach zugehört und mitgeredet habe.

Getrunken habe ich übrigens nur Mineralwasser – ich trinke eher wenig Alkohol und hätte es daher als Anmaßung empfunden, wenn ich mit Leuten, die ein Alkoholproblem haben, mitgetrunken hätte, nur um näher an sie ranzukommen. Ich habe mir immer gedacht, dass das auch anders gehen muss und ich dafür keinen Alkohol brauche. Das wurde von den Gästen meistens auch akzeptiert und manchen hat das sogar imponiert.

Christian Reister: Du hast mir auch mal erzählt, dass jedes Bild in dem Buch von dem Abgebildeten freigegeben wurde. Das finde ich sehr erstaunlich, zumal die meisten ja nicht gerade in den vorteilhaftesten Posen abgebildet sind. Gab es auch viele Ablehnungen und wie erklärst du dir, dass so viele zugestimmt haben?

Klaus Pichler: Also wie eine klassische Freigabe mit Model Release und Unterschrift darf man sich das nicht vorstellen, denn die Gäste in den Lokalen haben durch ihre Lebenswege meist eine gesunde Abneigung gegen alles vertragliche und ‚offizielle‘ – stattdessen habe ich geschaut, dass ich die ausgedruckten Fotos so bald wie möglich in den Lokalen vorbeibringe und den Leuten gebe. Einerseits war das ein Weg, mich zu bedanken, andererseits konnte ich so Fotos, die den Abgebildeten nicht recht waren, gleich eliminieren. Zu den Posen kann ich nur sagen, dass das auf den Fotos vielleicht manchmal nicht rüberkommt, dass es sich aber in den meisten Fällen um Selbstinszenierungen der Abgebildeten handelt, die ohne mein Zutun entstanden sind. Die Leute haben mit der Kamera gespielt und große Freude daran gehabt, vor mir quasi ‚Improtheater‘ zu spielen – meistens geht es in den Lokalen ja sehr humorvoll zu und die Inszenierungen und der Galgenhumor gehören einfach dazu. Deshalb haben sich die Leute, wenn sie ihre Fotos sahen, auch meistens sehr amüsiert und waren glücklich damit – die wissen ja ganz genau, aus welcher Schicht sie kommen, welche Lokale sie da frequentieren und welches Bild nach außen sie von sich selbst zeichnen. Dass da miteinander und auch mit sich selbst oft nicht eben schonungslos umgegangen wird, das ist auch klar. Ich denke, wenn man die Texte im Buch liest, merkt man, dass das ein gewisser ‚Wahnsinn mit System‘ ist und wenig zufällig oder unkontrolliert passiert.

Christian Reister: Ich denke, das hat hier auch mit einem gewissen Stolz und einem Selbstbewusstsein zu tun, das ich total schätze. Sicher hätte man bei einer ähnlichen Geschichte in gehobeneren Lokalen ständig damit zu tun, dass sich irgend jemand nicht gut getroffen findet oder sowieso nicht in diesem Kontext öffentlich gezeigt werden möchte.

Klaus Pichler: …wobei das natürlich ein generelles Problem in der dokumentarischen Fotografie ist: an Menschen aus den weniger gut abgesicherte sozialen Schichten kommt man viel leichter ran als an Menschen aus der Oberschicht. Die gehobene Gesellschaft, vor allem die reichsten Kreise, sind relativ hermetisch und man findet nur schwer Zugang, vor allem, wenn man nicht den selben Habitus hat. In den ‚unteren‘ Schichten ist das Miteinander ganz anders organisiert. Zugang findet, wer sich zu benehmen weiss, ganz egal, wie er aussieht oder wie viel oder wenig Geld er hat. Da war der Zugang für mich natürlich viel einfacher. Außerdem, und das sage ich jetzt wertfrei, gibt es in der Oberschicht viel weniger Freiheit, weil es viel um Repräsentation, in der Rolle bleiben und das Gesicht wahren geht – man kann es sich schlicht nicht leisten, sich unverstellt zu geben, da man den Status repräsentieren muss. Deshalb gibt es hier viel klarere Grenzen, was geht und was nicht, was für einen Fotografen natürlich um einiges uninteressanter ist, weil es eben nur ein Blick auf die Fassade, und nicht einen dahinter gibt.

Der Stolz und das Selbstbewusstsein der Leute im Buch hat mir immer sehr imponiert – da gibt es kein Verstecken oder Verstellen, da regiert der schonungslose Umgang, auch mit sich selbst. Hinter jeder vermeintlich rauen Aussage steckt viel Zuneigung und menschliche Wärme. Wenn man das erstmal verstanden hat, dann dringt man zum Kern der Menschen durch und lernt sie von ihrer durchaus stolzen Seite kennen. In den meisten Fällen waren das Leute im letzten Lebensdrittel, die sich meistens vom Wunschdenken, ein neues Leben zu beginnen, verabschiedet hatten und sich deshalb mit ihrem Lebensweg, der oft von Brüchen und Rückschlägen gekennzeichnet war, identifizierten.

Christian Reister: Da ich mich gerade mit einem Wiener unterhalte: wie war das diesjährige Vienna Photobook Festival? Letztes Jahr habe ich immer wieder Stimmen gehört, die meinten, dass der Zenit des Fotobuchbooms so langsam überschnitten sei und zu viele Festivals um das selbe Publikum buhlen.

Klaus Pichler: Für mich hat es sich ein wenig angefühlt wie ein ‚Familientreffen‘, weil sehr viele Leute da waren, die ich kenne und schon lange nicht mehr gesehen habe, was ich sehr genossen habe. Ich finde die Stimmung beim Festival jedes Jahr so angenehm international – man kommuniziert viel offener als im Rest des Jahres und es gibt immer viel zu entdecken, menschlich und inhaltlich. Zum Fotobuch selbst: ich hatte am Festival ein Gespräch mit einem sehr bekannten Fotografen, der seit 25 Jahren Fotobücher veröffentlicht und ich habe ihn gefragt, was der Unterschied in seiner Arbeitsweise und in seiner Art Fotobücher zu gestalten ist, seit es den Boom gibt und die Fotobücher als Objekte konzeptioneller und künstlerischer designed sind. Er meinte, dass der wichtigste Unterschied zu früher für ihn ist, dass die Fotos selbst nicht mehr so gut sein müssen, weil man das mit dem Buchdesign kaschieren und dadurch auch aus mittelmäßigen Fotos schöne Doppelseiten und Bücher gestalten kann. Ich denke, das trifft den Kern des Problems ziemlich genau – es gibt zu viele Bücher mit zu wenig echter Substanz, fotografisch wie inhaltlich, und dadurch fällt es schwer, den Überblick zu behalten und wirklich gute Bücher zu finden. Das bringt eine gewisse Resignation mit sich, und darunter leidet das Medium Fotobuch ganz bestimmt. Ob das längerfristig zu einem Rückgang führen wird, wage ich zu bezweifeln, was aber ganz bestimmt passiert, ist, dass gute Bücher übersehen werden.

Christian Reister: Die familiäre Stimmung in Wien fiel mir letztes Jahr auch auf. Gerade im direkten Vergleich zu Kasseler Festival war das ein großer Unterschied. Und in Berlin gibt es nichts vergleichbares – da verzettelt sich alles in sehr viele verschiedene Grüppchen und Kreise. Die Wiener Fotografenszene scheint mir viel überschaubarer und gut vernetzt. Da kennt irgendwie jeder jeden, man scheint sich Erfolge zu gönnen, statt zu neiden, und wenn einer ein neues Buch macht, kauft man das allein schon aus Solidarität. Ich übertreibe jetzt ein wenig, und wahrscheinlich sieht es hinter den Kulissen dann auch etwas anders aus?

Klaus Pichler: Wien ist eine Ansammlung von vielen Dörfern, sagt man, und deshalb kennt auch jeder jeden. Ich finde die gegenseitige Unterstützung in Fotografenkreisen generell sehr angenehm – das ist etwas, was die Fotografieszene meiner Meinung nach sehr auszeichnet. Natürlich teilt es sich auch hier in verschiedene Grüppchen und Szenen auf, aber die Vernetzung funktioniert sehr gut. Ich denke, es liegt auch daran, dass es nicht die eine, große Institution gibt, die alles dominiert, sondern eine Vielzahl von Einzelinitiativen und kleineren Orten oder Festivals, die das Feuer beständig am Brennen halten. Das reißt mit und hält die Begeisterung am Leben.

Christian Reister: Welcher Bereich hat für dich den größeren Stellenwert: redaktionelles Arbeiten, Auftragsarbeiten oder die freie Kunst?

Klaus Pichler: Für mich macht es die Mischung aus allen drei Betätigungsfeldern aus, die das Feuer am Brennen hält. In den künstlerischen Arbeiten steckt natürlich am meisten Herzblut, weil es meistens Serien sind, an denen ich jahrelang gearbeitet habe. Die Kombination von künstlerischen Projekten und Aufträgen ist eine ganz bewusste Entscheidung, weil ich weiß, dass ich, wenn ich mich nur den künstlerischen Arbeiten widmen würde, über kurz oder lang irgendwas zwischen seltsam und wahnsinnig werden würde .Wenn ich an einem Projekt arbeite, dann gibt es nur das Projekt und nichts anderes, und das geht manchmal ganz schön an die Substanz. Deshalb ist es ganz angenehm, zwischendrin immer wieder Aufträge zu machen, weil sie mich irgendwie erden. Deshalb schätze ich die Aufträge sehr, weil ich dabei flexibel sein muss, mit Menschen in Kontakt komme und als angenehmer Nebeneffekt auch noch eine ständige technische Weiterentwicklung stattfindet. Am schönsten ist es natürlich, wenn irgendjemand eine künstlerische Arbeit von mir sieht und auf diesem Weg meine Auftragsarbeiten entdeckt und mich bucht. Da ist dann meistens die Freiheit sehr groß und ich kann meine Vorstellungen umsetzen, ohne große Kompromisse eingehen zu müssen.

Christian Reister: Eine Auftragsarbeit, die erst vor kurzem weit über den eigentlichen Kontext heraus Aufsehen erregt hat, war die Serie für Schock, eine Firma, die Küchen-Spülen herstellt. Sie lebt von verrückten, surrealen, fast psychedelisch anmutenden Bildideen und wilden Kombinationen aus „echter“ Fotografie und Photoshop-Geniestreichen. Schon die Idee, ein Küchenthema mit Pudeln und in derart schrillen Farben zu illustrieren, ist ja nicht ganz naheliegend. Wie wurdest du hier gebrieft? Sind die Bildideen im Team entstanden, waren sie exakt vorgegeben oder ist das auf deinem eigenen Mist gewachsen?

Klaus Pichler: Die Zusammenarbeit mit Schock ist genau so ein Idealfall wie gerade beschrieben. Sie haben mich vor zwei Jahren wegen ‚Just the two of us’, meiner Serie über Menschen und ihre Verkleidungen, kontaktiert, weil sie den Wahnsinn der Serie ähnlich in ihre Werbelinie integriert haben wollten. Ich habe dann noch Katharina Schaffer an Bord geholt, eine befreundete Stylistin und Grafikerin, weil ich im lieber im Team arbeite und gewusst habe, dass sie ein gutes Gefühl für Farben und Requisiten hat. Die Zusammenarbeit mit Schock geht mittlerweile ins dritte Jahr, derzeit bin ich wieder mit neuen Bildern für den Katalog 2016/2017 beschäftigt. Beim Brandbook des Vorjahres gab es kaum ein Briefing, außer, dass die Bilder der Spülen mit Tieren, bunt und positiv irritierend sein sollten – ansonsten bekamen wir völlig freie Hand. Wir haben dann, aufbauend auf die Markenwerte, vier Tiere ausgewählt (Pudel, Flamingo, Waschbär, Schildkröte), die die Hauptdarsteller der Bilder werden sollten und ein paar Skizzen gemacht – der Rest ist dann recht intuitiv entstanden. Wir haben dafür ein Kellerlokal gemietet, in dem wir unser Studio aufgebaut und uns drei Monate lang so richtig ausgetobt haben – mit Farben, Tieren, Requisiten etc. Es war eine sehr lustvolle und kreativ fordernde Aufgabe, die Spülen zu inszenieren und mit Tieren zu bespielen, und wir sind dabei definitiv Meister an der Stichsäge und am Farbroller geworden.

Christian Reister: Es steckt da, wie bei deinen freien Arbeiten, ein immenser Aufwand dahinter. Irgendwo habe ich mal über die Entstehung deiner Serie „One Third“ gelesen – Stillleben verdorbener Lebensmittel. Das ist ja nicht nur technisch und von der Inszenierung her auf höchstem Niveau – auch der ganze Aufwand drum herum mit den ganzen verschimmelten Lebensmitteln kann man sich kaum vorstellen. Die Lagerung, der Verwesungsprozess etc. Erzähl mal…

Klaus Pichler: Ich bin ja eigentlich gerne faul und denke mir bei jeder neuen Projektidee, dass ich es diesmal mit weniger Aufwand angehe, aber dann passiert es jedes Mal, dass der Ehrgeiz mit mir durchgeht und ich mir denke, wenn ich es jetzt schon mache, dann ordentlich, und dann ufert es aus. Das gehört mittlerweile zu meiner Arbeitsweise irgendwie dazu und ich mag das auch, weil ich eben vorher nie genau weiss, was hinterher rauskommt und durch die lange Arbeit dann immer ein Punkt erreicht wird, an dem ich es fast als Befreiung empfinde, wenn ich beschließe, dass ich fertig bin.

Bei „One Third“ hat es auch harmlos begonnen, ich habe halt zwei Plastikkisten für die verschimmelnden Nahrungsmittel in meiner Toilette gestapelt und gewartet, was sich bei den darin gelagerten Sachen so tut. Ich habe dann recht bald gemerkt, dass der Faktor Zeit wichtig ist und dass manches nicht so wird, wie ich das wollte und ich deshalb neu starten muss. Deshalb waren es am Schluss 13 Kisten und zwei blockierte Räume, dazu kamen ungefähr eine Million Mücken, eine ausgewachsene Paranoia und leichter Putzzwang. Ich habe mir damals gedacht, dass ich, wenn ich das Projekt für mich selbst glaubwürdig umsetzen will, auch mit den Nahrungsmitteln koexistieren muss – deswegen der ganze Wahnsinn. Insgesamt aber eine bereichernde Erfahrung, die ich – jetzt mit ausreichend Sicherheitsabstand – nicht missen möchte.

Christian Reister: Wer organisiert das alles? Assistenten? Ein Pichler-Büro?

Klaus Pichler: Haha, nein, das mache ich alles selbst. Ich mag es, eine One-Man-Show zu sein und alles klein und überschaubar zu halten, mir aber für Sachen, die ich nicht alleine machen kann oder will, Leute zu suchen, mit denen ich dann kooperiere. Für mich ist das zentrale Element rund um die Fotografie immer noch die Leidenschaft und die Freude daran, und deshalb schaue ich, dass ich immer den Überblick behalte und so viel wie möglich selbst erledige. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bedeuten ja immer auch Verantwortung, weil es eben Leute sind, die von einem abhängig sind, und deshalb habe ich mich bewusst dagegen entschieden, mit Gewalt zu expandieren – so kann ich auch garantieren, dass jedes Projekt und jeder Job, den ich mache, mit voller Konzentration entsteht und ich nichts machen muss, das ich nicht machen will.

Christian Reister: Spontan: drei Fotobücher oder -ausstellungen, die dich in letzter Zeit beeindruckt haben?

Klaus Pichler: Ich bleib mal bei den Büchern, weil die eher mein Metier sind als Ausstellungen. Meine drei ewigen Fotobuch-Lieblinge, die mich seit Jahren begleiten und die ich immer wieder mal ansehe sind ‚Das Land‘ von Manfred Willmann, ‚Office‘ von Lars Tunbjörk und ‚Ray’s a laugh’ von Richard Billingham. Diese drei Bücher ziehen mich auch nach dem hundertsten Ansehen immer noch in ihren Bann, weil sie alle etwas haben, das ich ‚Melodie‘ nennen würde, also eine Dramaturgie und einen Sog, der etwas mit einem anstellt, während man die Bücher ansieht. Außerdem habe ich gerade einen schon älteren Roman gelesen, der mich durch seine eindringlichen Beschreibungen und die Originalität der Sprache sehr beeindruckt hat, nämlich ‚Verlorene‘ von Cormac McCarthy.

Christian Reister: Gib uns doch zum Abschluss noch einen Ausblick, was als nächstes von dir zu erwarten ist.

Klaus Pichler: Derzeit stecke ich mitten in den Arbeiten zum nächsten Buch, das programmgemäß im September erscheinen wird. Fotos und Texte sind schon fertig, jetzt geht es ums Layout und um die Auswahl der passenden Materialien. Thematisch und auch ästhetisch wird es wieder völliges Neuland werden, wie man es von mir kennt – ich mag es ja, mich mit jedem Projekt quasi neu zu erfinden, aber trotzdem einen roten Faden erkennbar werden zu lassen. Mehr mag ich noch nicht verraten, weil ich es für das Projekt am besten finde, wenn es ohne vorauseilende Erklärung erscheint, aber so lange ist es ja nicht mehr hin bis September.

Danke jedenfalls für das Interview und die spannenden Fragen, hat mir sehr viel Freude gemacht.

Christian Reister: Und mir erst, vielen Dank zurück!

Klaus Picher fotografiert von Florian Rainer

Klaus Pichler ist Fotograf und lebt in Wien. In den letzten Jahren hat er mehrere erfolgreiche Fotobücher veröffentlicht, zuletzt „Golden Days Before They End“ (Edition Patrick Frey, 2016), „Dust“ (Anzenberger Edition, 2015) und „Just The Two Of Us“ (self-published, 2014).

www.kpic.at

Foto links: Klaus Pichler, fotografiert von Florian Rainer